Rede von Eva Schulz-Jander am 6. Oktober 2020 anlässlich der Vorstellung des Buches von Christina Hein "Nie vergessen. Stolpersteine in Kassel"

 

Ich bin ein Stein

Ich habe Leben und Tod gesehen

Ich habe Glück erfahren

Sorge und Schmerz

 

Pablo Neruda

 

Mit diesen Versen von Pablo Neruda möchte ich einen Leitfaden weben für meine Worte heute. Einen Leitfaden, da jeder einzelne Stolperstein zu uns spricht. Vor uns entfaltet sich ein ganzes Leben, ein Leben voller Glücksmomente, voller Sorgen und Schmerz, das in einem gewaltsamen Tod oder Vertreibung endet. Dieser kleine Messingstein, 10 mal 10 Zentimeter im Durchmesser ist ein Ort geschichteter Zeit und spannt seine Flügel weit, dringt in unser Auge ein und erzählt uns eine Geschichte.

 

Seit 2011 gibt es auch in Kassel Stolpersteine, der Weg dahin war, wie Christina Hein es so treffend ausdrückt, holprig. Lange waren die jüdische Gemeinde, die Stadt Kassel und viele andere strikt dagegen, und ich, ich es muss zugeben, gehörte auch dazu. Mir war der Gedanke an ein Deutschland, ja vielleicht auch ein Europa, gepflastert mit den Namen ermordeter Juden schlichtweg unerträglich. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Alles in mir sträubte sich dagegen, den Namen meiner Großmutter, Cousinen, Tanten und Onkel im grauen Pflaster einer Stadt in Polen zu visualisieren. Sie haben kein Grab und ein Stolperstein schien mir wie eine Verhöhnung ihres Gedenkens, ein ungeschütztes öffentliches Zur-Schau-Stellen ihres Leids.

 

Aber es kam anders. Mit der Zeit wurde das Projekt von Günter Demnig in vielen Städten in Deutschland und im Ausland realisiert. Ich habe gesehen, wie in den meisten Städten sich Stolperstein-Vereine bildeten, die der Geschichte der Deportierten, Vertriebenen, Ermordeten nachspürten, sie recherchierten, mit im Ausland lebenden Verwandten Kontakt aufnahmen, und ich erfuhr, was es für die Nachkommen bedeutet zu wissen, in Deutschland interessiert sich jemand für die Geschichte meiner Mutter, meines Vaters, Bruders, Großvaters oder Großmutter. Sie sind nicht vergessen, ihre Namen sind bekannt und sollen bewahrt werden. Ihre Geschichte wird erzählt. In Schulen erzählen Schülerinnen und Schüler von den Menschen, die einst, vielleicht sogar in ihrer Straße, aber zumindest in ihrer Stadt lebten, sich am Stadtleben beteiligten, vielleicht in die gleiche Schule gingen, um dann ausgegrenzt, verspottet und erniedrigt und schließlich vertrieben oder ermordet zu werden. Der Geschichtsunterricht bekam ein Gesicht. Ich sah, wie weit auseinandergerissene Familien sich bei der Verlegung eines Stolpersteins wieder trafen. Ich erfuhr, dass Verwandte den Stolperstein-Vereinen Dokumente zur Verfügung stellten, Briefe, Photographien, und so begleitet jeden Stein ein ganzes Konvolut von Erzählungen. Nun war auch ich, die Skeptikerin, überzeugt: Dieses Projekt ist mehr als Erinnerungs-Kunst, weitaus mehr. Es ist ein lebender Tribut an die Opfer des Nationalsozialismus, an dem viele mitwirken, die Mitglieder der Stolperstein-Vereine, die Bewohner der Häuser, vor denen der Stein gesetzt wird, Verwandte und Nachkommen der Opfer, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen städtischer Behörden, oft auch Schüler und Schülerinnen und natürlich der Künstler und Initiator Günter Demnig. Das Projekt, begonnen 1992, mit der Verlegung des ersten Steins in Köln, wächst, man kann fast sagen täglich, es kennt keine Grenzen, keine Nationen, eine reisende Erinnerung, und wir können uns mittels der Stolpersteine auf eine Erinnerungsreise einlassen. Inzwischen gibt es mehr als 75.000 Stolpersteine in mehr als 24 Ländern. Es gibt sie in Deutschland, Österreich, Niederlande und Ungarn, Polen und Tschechien, Belgien und der Ukraine, Italien, Norwegen, in der Slowakei, in Slowenien, und vor drei Jahren wurde der erste Stolperstein außerhalb Europas in Buenos Aires eingeweiht. Jeder Stein ein Unikat, auch wenn ein jeder dem anderen gleicht, 10 mal 10 Zentimeter groß. In mehr als 24 Sprachen steht als erstes auf jedem Stein „hier wohnte“. Seit 2005 wird jeder einzelne von dem Metallbildhauer Michael Friedrichs-Friedländer per Hand angefertigt. Seit Jahren widersetzt er sich gegen jeglichen Vorschlag, die Anfertigung der Steine zu industrialisieren, d.h. mit Maschinen herzustellen. „Aus Respekt vor den Opfern, muss jeder Stein per Hand angefertigt werden“, so Michael Friedrichs-Friedländer. Der industriellen Tötungsmaschinerie des Nationalsozialismus schreit jeder handgefertigte Stein „Ich bin ein Mensch“ entgegen.

 

Je länger ich über diese Form des Gedenkens nachdenke, desto überzeugter werde ich. Wir alle fragen uns immer wieder wie kann der Millionen von Opfern überhaupt gedacht werden? Wie ein so maßloses Verbrechen in eine Erinnerungskultur einbetten, so dass zukünftige Generationen von dem Ausmaß des Verbrechens etwas erfahren. Der Formen kennen wir viele, Mahnmale, nicht zuletzt das gigantische Mahnmal in Berlin von Peter Eisenmann, es gibt Gedenkveranstaltungen, Vorträge und Bücher, Filme und Gedenkstätten, aber es gibt nur eine Nation übergreifende Form des Gedenkens. Sie ist, wie der Tötungswahn der Nationalsozialisten es war, grenzüberschreitend, völkerübergreifend. Das macht diese Form des Gedenkens so einmalig.

 

Sie liegen eingebettet in Fußwege, werden nass vom Regen und heiß von der Sonne, sie werden schmutzig und staubig und müssen von Zeit zu Zeit gereinigt werden. Und das ist noch etwas Besonderes dieser Steine, sie hören nicht auf, uns zu fordern, sie lassen uns nicht wie andere Mahnmale einfach in Ruhe, wie eine Pflanze müssen sie gepflegt werden. Und das machen, so wie hier in Kassel, Schulklassen oder andere Paten. So ist dies das einzige Mahnmal, das immer weiter mit den Menschen in Beziehung tritt, und auch mit den kommenden Generationen. Ein Mahnmal, das nicht aufhört zu mahnen.

 

Und noch etwas: Dieses Flächenmahnmal ehrt alle Opfer des Nationalsozialismus , Juden, Sinti und Roma, politische Oppositionelle und Widerstandskämpfer, Homosexuelle, Deserteure, Zeugen Jehovas und Bibeltreue, Priester, die sich widersetzten, ja, mit den Stolpersteinen wird jedem und jeder gedacht, an denen das mörderische Regime einen Mord beging oder auf menschenverachtende Weise in ihr Leben eingriff…

 

In diesem Buch von Christina Hein begegnen sie uns und erzählen, mit Christinas Stimme, ihre Geschichte. Felix Blumenthal, der bekannte Kinderarzt, Alfred Gail, ein -20-Jähriger, der nach der Kapitulation zu seiner Familie wollte und als Deserteur erschossen wird; Werner Holländer, der wegen „Rassenschande“ mit dem Fallbeil hingerichtet wird; Lise Lore Israel, die als 15-Jährige die Malwida-von Meysenbug-Schule verlassen muss und in Auschwitz ermordet wird; und die Zeugin Jehovas Wilhelmine Pötter, auch sie wird ermordet, weil sie Gott mehr gehorchen wollte als den Menschen. Sie alle sprechen zu uns in diesem Buch.

 

Wenn ich das Buch in die Hand nehme, denke ich unwillkürlich an die Verse die Gertrud Kolmar in ihrem ersten Gedichtband „Weibliches Bildnis“ an die Leser richtet:

 

Du hältst mich in den Händen ganz und gar

Der du dies liest, gib acht;

Denn sieh du blätterst einen Menschen um.

 

Mit diesen Worten von Gertrud Kolmar, auch sie ermordet in Auschwitz, mögen wir uns dem Buch ehrfürchtig nähern. Es ist ein schönes Buch geworden, mit der gleichen Sorgfalt hergestellt, mit der Christina Hein die Geschichten recherchiert hat. Es ist ein portatives Erinnerungszeichen und dafür müssen wir Christina Hein, dem euregio Verlag, Renate Matthei und Sabine Kemna, sehr dankbar sein. Nie Vergessen –Stolpersteine in Kassel Porträts von Menschen. Die Doppeldeutigkeit des Titels „Nie Vergessen“ ist ein Tribut an die Opfer, wir vergessen Euch nicht, und eine Mahnung an uns, niemals zu vergessen. Mit dem Leitfaden Paul Nerudas habe ich begonnen, mit ihm, möchte ich enden:

 

Ich bin ein Stein

Ich habe Leben und Tod gesehen

Ich habe Glück erfahren

Sorge und Schmerz

 

Eva Schulz-Jander Oktober 6, 2020

 

 

 

 

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Führung zu "Stolpersteine und die Zerstörung jüdischen Lebens im Vorderen Westen" im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus.

Teilnahme kostenlos

29.06.2024 Verlegung von Stolpersteinen mit Gunter Demnig