Johanna und Adolph Kander

Spohrstraße 11

Johanna und Adolph Kander
Johanna und Adolph Kander

Der Pferdehändler Adolph Kander war mit seiner Familie 1929 aus der Kleinstadt Naumburg mit einer etwas mehr als 30 Menschen umfassenden jüdischen Gemeinde in die Großstadt Kassel gekommen. Er war der 1890 geborene Sohn des Viehhändlers Levi Kander in Naumburg, der dort zeitweise Stadtverordneter und Ältester der jüdischen Gemeinde war. Nach Beendigung seiner Schulausbildung arbeitete er im väterlichen Geschäft und übernahm dieses als alleiniger Inhaber nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1907. In Naumburg besaß die Familie ein zweistöckiges Wohnhaus mit Stallungen für 12-15 Pferde sowie verschiedenen Lagerräumen, zudem ein Gartengrundstück. Die Geschäftsbeziehungen des Händlers waren weit gespannt. Wie sich der Sohn erinnerte, besuchte Adolph Kander Pferdemärkte in Ungarn und Belgien sowie die großen Märkte in Hannover, Dortmund und Soest. Für seine Kunden – Bauern und vermutlich auch Spediteure – erfüllte seine Arbeit die wichtige Funktion, ihnen das geeignete Pferd zu beschaffen.

 

Adolph Kanders 1893 geborene Ehefrau Johanna geb. Levinstein stammte aus Wichmannshausen im Kreis Eschwege. Das Paar hatte die beiden 1917 und 1919 geborenen Söhne Ernst Ludwig und Rolf, die in Naumburg katholische Bildungseinrichtungen besuchten. Der im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichnete Husarenoffizier Adolph Kander war wie viele seiner Generation durch und durch Patriot, für ihn stand „Vaterlandsliebe“ an erster Stelle. „Mein Vater war deutscher Staatsbürger mosaischen Glaubens“, erinnerte sich der Sohn Rolf, „die Vaterlandspflicht ging ihm über alles.“ Und weiter: „Dass sein Vater 1871 in Paris einmarschiert ist, war für ihn der größte Stolz.“ Später, in Kassel, wagte sich der Sohn nicht, von einem „jüdischen Volk“ zu sprechen.

 

Adolph Kander übernahm noch 1928 das Amt des Gemeinderechners der jüdischen Gemeinde, verkaufte aber bereits ein Jahr später sein Haus, verlegte das Geschäft nach Kassel, wo das Unternehmen offensichtlich bereits eine Niederlassung hatte, und bezog dort eine große Wohnung in der Hohenzollernstraße 6, während sich die Pferdehandlung in der Ottostraße unmittelbar am Hauptbahnhof befand. Das entsprach einer jüdischen Wanderungsbewegung vom Land in die größeren Städte, von der auch die jüdische Gemeinde Kassels im Jahrhundert zuvor enorm profitiert hatte. So war auch Adolph Kanders Onkel Josef, zweitweise Compagnon seines Vaters im Naumburger Pferdehandel, schon Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nach Kassel gekommen, um hier Pferdehandel zu betreiben: ein Geschäft, das seine Witwe Sophie geb. Isenberger nach seinem Tod im Jahr 1918 fortführte.

 

Über die Motive seines Vaters für die Verlegung von Wohnsitz und Geschäft heißt es in den Erinnerungen des Sohnes Rolf: „Weil ein jüdischer Junge immer lernen muss und immer weiterkommen muss und immer mehr sein soll als die Eltern und mein älterer Bruder schon in Kassel auf dem Gymnasium war, und da wir auch schon Stallungen in Kassel hatten, hat mein Vater Ende 1929 unser Haus verkauft und wir sind nach Kassel umgezogen.“ Vermutlich gab es aber auch wirtschaftliche Beweggründe für die Übersiedlung in die Großstadt.

 

Rolf Kander besuchte zunächst die jüdische Volksschule, wo er zum ersten Mal auf gleichaltrige Juden traf, und dann das Realgymnasium II in der Schomburgstraße, auf das sein älterer Bruder Ernst Ludwig bereits seit 1927 ging. Die Erinnerungen von Rolf Kander zeugen von Konflikten mit seinem Vater, die der Umzug nach Kassel mit sich brachte. Während der Vater Distanzierung von den Ostjuden verlangte, sah der Sohn, der ihnen zum ersten Mal in der jüdischen Schule begegnete, „feine, gute Jungens, die sicher auch meine Freunde werden könnten.“ Während sich der Sohn begeistert der deutsch-jüdischen Jugendbewegung „Kameraden“ anschloss, konnte sich der Vater nicht mit den dort vertretenen Ansichten einverstanden erklären. Und als der Sohn noch vor 1933 in die zionistische Jugendbewegung eintrat und seinem Vater erklärte, nicht studieren zu wollen, sondern Landwirt zu werden und in Palästina Pionierarbeit zu leisten, erklärte ihn sein Vater zum „Vaterlandsverräter“ und verwies ihn des Hauses. „Es hat sehr große Anstrengungen meiner heißgeliebten Mutter gekostet, um meinen Vater davon zu überzeugen, mich wieder in sein Haus aufzunehmen“, heißt es in den Erinnerungen von Rolf Kander.

 

Während die Straßenkämpfe in Kassel und die Schreie „Juda verrecke“, nicht zu übersehen waren, lebte Adolph Kander wie so viele Juden in dem Glauben, dass das „irgendwie vorüber geht“, wie sein Sohn schreibt. Dabei waren die Viehhändler eine besondere Zielscheibe des seit 1933 vom Staat entfesselten Antisemitismus, und sein Geschäft muss schon im gleichen Jahr erhebliche Einbußen erlitten haben oder vielleicht sogar untersagt worden sein. Jedenfalls taucht es im Adressbuch 1934 ebenso wenig auf wie das von Sophie Kander in der Bahnhofstraße. Lediglich die Berufsbezeichnung Pferdehändler ist unter der Adresse Spohrstraße 11, wo die Familie seit Ende 1932 lebte, noch zu finden.

 

Der ältere Sohn Ernst Ludwig erlangte 1933 die mittlere Reife, musste aber das Realgymnasium II im gleichen Jahr aus der Obersekunda verlassen. Er emigrierte im Dezember 1934 nach Nigel in Südafrika, „um weiteren Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen“, wie es in Entschädigungsakten heißt. Seinem Bruder Rolf gelang es im März 1936, mit der Jugend-Alijah nach Palästina zu kommen. Zuvor hatte er sich von vielen Freunden seines Vaters verabschiedet, die ihm seiner Erinnerung nach „mit tränenden Augen“ versicherten, „dass sie nie erwartet hätten, dass ich Deutschland einmal verlassen muss“.

Rolf Kander lebte im Kibbuz En-Charod. Von ihm brachte das Jüdische Gemeindeblatt für Kassel, Hessen und Waldeck 1938 in acht Folgen einen Bericht aus Palästina über eine Reise mit der Jugendalijah nach Galiläa: geschrieben von einem glühenden Zionisten, der die Elterngeneration an seinen Empfindungen und seiner Freude teilhaben lassen will. So heißt es am Ende seines Berichts: „Nie haben wir das Gefühl der Fremde gehabt (…), wir nahmen alles als unsere Heimat auf (…). Wir hoffen nur immer, dass unsere Eltern so mit uns erleben, sich mit uns freuen können an unserem Land. Wir haben ein neues Stück Heimat kennengelernt“.

 

Wie die zurückgebliebenen Eltern ihren Lebensunterhalt bestritten, ist nicht klar. Auch sie trugen sich wohl spätestens ab 1937 mit dem Gedanken, Deutschland zu verlassen und zu ihrem Sohn Ernst Ludwig nach Südafrika zu gehen. Der Kasseler Anwalt Dr. Moritz Stern versuchte, dafür die devisenrechtliche Voraussetzungen zu schaffen, Adolph und Johanna Kander selbst stellten 1937 den „Antrag auf Ausstellung von Reisepässen und Führungszeugnissen zur Auswanderung nach Südafrika“, wie die Geheime Staatspolizei dem Finanzamt mitteilte. Dazu sollte es nicht kommen.

 

Appell der Aktionshäftlinge vom November 1938 im KZ Buchenwald (Archiv der Gedenkstätte Buchenwald)
Appell der Aktionshäftlinge vom November 1938 im KZ Buchenwald (Archiv der Gedenkstätte Buchenwald)

Adolph Kander gehörte zu den 258 jüdischen Männern, die am 10. November 1938 während der Pogrome verhaftet und am 11. November mit einem Transport aus Kassel in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert wurden. Hier sperrte die SS sie in ein Sonderlager innerhalb des KZ, in dem die ohnehin extremen Haftbedingungen des Lagers und der Terror des SS noch einmal aufs Äußerste gesteigert wurden. Adolph Kander gehörte zu den 252 Aktionshäftlingen, deren Leben dort bis zum Februar 1939 durch Terror, Hunger und Krankheit beendet wurde. In den Erinnerungen von Rolf Kander heißt es, sein Vater habe sich einem SS-Mann gegenüber geweigert, die Hand zu heben und „Heil Hitler, ich bin ein Saujude“ zu sagen. Stattdessen habe er gefordert, dass dieser vor ihm als Frontkämpfer und Eisernem-Kreuz-Träger salutiere, und sei deshalb beim Morgenappell totgeschlagen worden. Inwieweit sich dies so zugetragen hat, muss offen bleiben. Allerdings schildert der zusammen mit Adolph Kander inhaftierte Kasseler Lehrer William Katz in seinen Lebenserinnerungen „Ein deutsch-jüdisches Leben“ von einem ähnlichen Vorfall mit einem Träger des Eisernen Kreuzes.

Ghetto Riga (Bundesarchiv)
Ghetto Riga (Bundesarchiv)

Johanna Kander zog nach dem Mord an ihrem Mann im April 1939 zunächst in die Kölnische Straße 51, im Februar 1940 dann – vermutlich zwangsweise – in das Haus Kirchweg 72, in dem eine ganze Reihe von Juden untergebracht wurden. Die erste große Deportation von Kassel in das Ghetto Riga am 9. Dezember 1941 kostete sie das Leben.

 

 

 

Quellen und Literatur

 

HHStAW: 518 21349 | 518 6621 | 518 66199

519/3 36463

StadtA Kassel: Adressbücher | Liste der jüdischen Einwohner

Gedenkstätte Buchenwald – Totenbuch

Alemannia Judaica zu Naumburg

Katz, William (Willy): Ein jüdisch-deutsches Leben: 1904-1939-1978, Tübingen 1980

Rolf (Eli) Kander: ,,... daß besonders Naumburg und nachher Kassel dazu beigetragen haben, daß ich nicht hassen kann ...", in: Knöppel, Volker und der Magistrat der Stadt Naumburg (Hg.): „…da war ich zu Hause“. Synagogengemeinde Naumburg 1503-1938, Hofgeismar/Naumburg 1998

Rolf Kander, Jugend erlebt Erez Israel. Bericht von einer Fahrt der Jugendalijah Ain Harod in den oberen Galil, in: Jüdisches Gemeindeblatt für Kassel, Hessen und Waldeck, Jg. 1938 Nr. 2-9

 

Die Stolpersteine wurden angeregt von Hans-Peter Klein (Melsungen) auf Grund seines Kontaktes zu Nachfahren der Familie.

 

Wolfgang Matthäus, April 2019

 

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29.06.2024 Verlegung von Stolpersteinen mit Gunter Demnig