Wilhelmine Freckmann

Erzbergerstraße 41 (früher Orleansstraße)

Wilhelmine Freckmann (links) mit Frl. Pütz in der Kirche St. Familia
Wilhelmine Freckmann (links) mit Frl. Pütz in der Kirche St. Familia

 

 

Wilhelmine Freckmanns Schicksal genau aufzuklären, ist heute leider nicht mehr möglich. Denn ihre Mörder taten alles, um ihr Verbrechen zu vertuschen, indem sie die Akten der Kranken, die in Hadamar vergast wurde, vernichteten. Überliefert und in Familienbesitz sind einige wenige Dokumente.

 

 

 

Wilhelmine Freckmann war eins von neun Kindern von Sophie Freckmann, geb. Engelhardt (1861-1935) und des Reichsbahnsekretärs und Rechnungsrates Ernst Freckmann (1856-1937) und wurde am 10. Januar 1894 in Kassel geboren, wo sie in der Orleansstraße 41 (heute Erzbergerstraße) aufwuchs. Es lag im Trend der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, dass sie wie damals viele junge Frauen und auch zwei ihrer Schwestern als Telegraphen-Betriebsassistentin einen Angestelltenberuf ausübte.

 

Wilhelmine Freckmann (rechts) neben ihrer Mutter Sophie und ihrer Schwester Marie. Hinten ihre Brüder Karl, Franz und Johannes (von links). - Wahrscheinlich zweite Hälfte der 1920er Jahre.

Wilhelmine Freckmann (vielleicht in Marburg)
Wilhelmine Freckmann (vielleicht in Marburg)

Als Ledige noch bei Ihren Eltern lebend kam sie im Februar 1929 im Altern von 35 Jahren zum ersten Mal in die Heil- Pflegeanstalt Marburg. Da ihre Krankenakte aus dem eingangs erwähnten Grund vernichtet ist, wissen wir nichts über ihre Erkrankung. Einer ihrer Brüder soll später von einer Hirnhautentzündung gesprochen haben. Die Marburger Anstalt war 1876 als „Irrenanstalt Marburg“ zur Behandlung „heilbarer“ Patienten gegründet und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Heil- und Pflegeanstalt geworden. Wilhelmine Freckmann wurde nach mehr als drei Jahren am 2. Juni 1931, aus der Anstalt entlassen, aber am 10. März 1932 wieder aufgenommen, um am 1. Juni 1932 abermals entlassen zu werden. Ihre letzte Aufnahme in die Anstalt Marburg erfolgte dann bereits wenig später am 6. August 1932. Nachdem ihre Mutter 1935 und ihr Vater 1937 gestorben waren, kümmerte sich ihre unverheiratete Schwester Marie um sie.

 

Am 30. April 1941 verlegte man Wilhelmine Freckmann zusammen mit weiteren 119 Patientinnen und Patienten in die Anstalt Weilmünster. Erhalten ist ein Schreiben des Direktors der Landesheilanstalt Marburg an seinen „Kollegen“ in Weilmünster vom 10. Mai 1941, in dem er auf dessen Anfrage hin mitteilt, dass „es sich bei Frl. Freckmann um einen katatonen Endzustand“ handele. „Es war bereits ein schwerer Abbau der Persönlichkeit eingetreten. Kontakt mit der Umwelt bestand nicht, die Pat. war mutistisch und völlig antriebslos“ heißt es in dem mit „Heil Hitler!“ unterschriebenen Brief. Es ist zu vermuten, dass bei den Marburger Ärzten bekannt war, welche Bedeutung der „Verlegung“ ihrer Patientinnen und Patienten zukam. Die Anstalt Weilmünster war zu dieser Zeit eine Zwischenanstalt für die T4-Tötungsanstalt Hadamar. Hier wurden seit Februar 1941 Patienten aus anderen Anstalten gesammelt, bevor sie - wie Patienten aus der eigenen Anstalt - in Hadamar ermordet wurden. Von den 1800 Menschen, die 1941 nach Weilmünster gebracht wurden, wurden nur fünf entlassen. Bis auf sieben weitere, die in Weilmünster verblieben, wurden alle anderen in Hadamar ermordet. Insgesamt wurden 2.595 Patienten aus Weilmünster nach Hadamar verschleppt.

 

Den Geschwistern von Wilhelmine Freckmann muss mit ihrer Verlegung nach Weilmünster der Ernst der Lage bewusst gewesen sein, denn ihr Bruder Johannes bemühte sich verzweifelt, aber vergeblich, seine Schwester aus der Anstalt heraus zu bekommen und in eine private psychiatrische Klinik zu bringen. Von der Verwaltung des zuständigen Bezirksverbandes Nassau beim Oberpräsidenten erhielt er auf zwei Schreiben vom 12. und 24. Mai hin am 29. Mai eine abschlägige Antwort: „Fräulein Wilhelmine Freckmann ist aufgrund einer Anordnung des Reichskommissars am 30. April 1941 in die Landesheilanstalt Weilmünster eingewiesen worden. Ihrem Gesuche um Verlegung derselben in das Sanatorium Ehrenwall zu Ahrweiler bedauere ich, daher nicht entsprechen zu können.“ Vom Direktor der Landes-Heilanstalt Weilmünster kam fünf Tage später die gleiche Antwort: „Nach eingehender Erkundigung ist die Verlegung von Wilhelmine Freckmann, die auf Anordnung des Herrn Reichsverteidigungskommissars geschah, im Zuge kriegswichtiger Maßnahmen erfolgt. Ein Eingreifen in diese Maßnahmen ist nicht möglich, sodass eine Weiterverlegung in das Sanatorium Ehrenwall leider ausgeschlossen ist.“ Und in einem weiteren Schreiben vom 7. Juni 1941hieß es zu den Sorgen des Bruders um seine Schwester: „Nachrichten über das Befinden der Kranken, kann jedesmal nur bei Anfragen erfolgen. Wie Sie aus der Anlage ersehen besteht zur Zeit Besuchssperre. In der Anlage senden wir Ihnen eine Zahlungsverpflichtung.“

 

Abtransport von Kranken mit den grauen Bussen.

Die - zu dieser Zeit grauen – Busse der Gekrat (Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft), einer Abteilung der T4-Zentrale, die den Massenmord an den Kranken und Behinderten betrieb, brachten Wilhelmine Freckmann zusammen mit 102 weiteren Patientinnen und Patienten am 12. Juni 1941 nach Hadamar, eine von sechs Tötungsanstalten der „Aktion T4“, wo sie noch am gleichen Tag mit Kohlenmonoxid vergast wurden.

 

Die Mordaktionen waren offensichtlich nicht zu verbergen und erregten Unruhe unter der Bevölkerung. So heißt es in einem geheimen Stimmungsbericht des Oberlandesgerichtspräsidenten Frankfurt (Main) an den Reichsminister der Justiz bereits im Mai 1941: „Die Fahrzeuge, mit denen die Kranken aus ihren Unterbringungsanstalten zu Zwischenanstalten und von da zu Liquidationsanstalten gebracht werden, sind der Bevölkerung bekannt. Wie man mir sagt, rufen schon die Kinder, wenn solche Transportwagen kommen: Da werden schon wieder welche vergast. In Limburg sollen auf der Fahrt von Weilmünster nach Hadamar täglich 1 bis 3 große Omnibusse mit verhängten Fenstern durchkommen, die Insassen in die Liquidationsanstalt Hadamar abliefern. (…) Den dicken Rauch der Verbrennungshalle sähe man täglich über Hadamar.“ (zit. nach Klee, S. 229)

Der Bischof von Limburg Dr. Hilfrich äußerte sich zu Hadamar in einem Protestschreiben an den Reichsminister der Justiz vom 13. August 1941, in dem er erneut die Einstellung der Vernichtung sogenannten „lebensunwerten Lebens“ forderte: „Etwa 8 km von Limburg entfernt ist in dem Städtchen Hadamar auf einer Anhöhe unmittelbar über dem Städtchen eine Anstalt (…) umgebaut bzw. eingerichtet worden als eine Stätte, in der nach allgemeiner Überzeugung obengenannte Euthanasie seit Monaten (…) planmäßig vollzogen wird.

Öfter in der Woche kommen Autobusse mit einer größeren Anzahl solcher Opfer in Hadamar an. Schulkinder der Umgebung kennen diese Wagen und reden: ‚Da kommt wieder die Mordkiste.‘ Nach der Ankunft solcher Wagen beobachten dann die Hadamarer Bürger den aus dem Schlot aufsteigenden Rauch und sind von dem ständigen Gedanken die die armen Opfer erschüttert (…).“ (zit. nach Klee, S. 231)

 

Die Rauchfahne aus den Krematoriumsöfen im Sommer 1941. © Fotosammlung Gedenkstätte Hadamar

 

Wie bereits zuvor täuschten und belogen die Verantwortlichen nach dem Mord die Angehörigen. Der Anstaltsdirektor in Weilmünster teilte am Tag des Mordes Johannes Freckmann in Wittlich offenbar auf einem Vordruck, in den lediglich Name und Datum eingetragen wurden, mit:

„Auf Grund eines Erlasses des Reichsverteidigungskommissars wurde Wilhelmine Freckmann geb. 10.1.94 am 12. Juni 1941 durch die Gemeinnützige Kranken-Transport-G.m.b.H., Berlin W9, Potsdamer Platz 1, in eine andere Anstalt verlegt, deren Namen und Anschrift mir nicht bekannt ist. Die aufnehmende Anstalt wird Ihnen eine entsprechende Mitteilung zugehen lassen. Ich bitte Sie, bis zum Eingang dieser Mitteilung von weiteren Anfragen abzusehen.

Sollten Sie jedoch innerhalb von 14 Tagen von der aufnehmenden Anstalt keine Mitteilung erhalten haben, so empfehle ich Ihnen, sich bei der Gemeinnützigen Kranken-Transport-G.m.b.H. unter Angabe der Personalien und des Tages der Verlegung aus Weilmünster zu erkundigen.

Den etwaigen sonstigen Angehörigen des Kranken bitte ich, erforderlichenfalls hiervon Mitteilung zu geben.

Heil Hitler!

Der Anstaltsdirektor Dr. Schneider“*

 

Wahrscheinlich am 30. Juni, also mehr als zwei Wochen nach dem Mord, unterrichtete man aus Hadamar Wilhelmine Freckmanns Schwester Marie, die noch in der Orleansstraße wohnte, vom Tod ihrer Schwester und übersandte ihr im Juli sechs Ausfertigungen einer Sterbeurkunde, in der als Todesursache „Grippe, Kreislaufschwäche“ und als Todestag der 30. Juni angeben ist. Gleichzeitig teilte man ihr mit, „dass die Urne mit den sterblichen Überresten der Entschlafenen am 12.7.41 an die von Ihnen angegebene Friedhofsverwaltung zur Absendung gelangte. Sie wird in den nächsten Tagen dort eintreffen.

Wir danken Ihnen bestens für die unseren Patienten freundlicher Weise zur Verfügung gestellten Nachlassgegenstände. (…)

Heil Hitler!“

 

Wilhelmines Geschwister gaben sich damit nicht zufrieden. Ihre Schwester Gertrud Berger wandte sich im Juli 1941 an die Kanzlei des Führers der NSDAP – mit welcher Hoffnung auch immer. Aufklärung erhielt sie natürlich nicht, sondern die Wiederholung von Lügen:

„Auf Grund Ihres an den Führer gerichteten Schreibens vom 4.7.1941 habe ich die Angelegenheit Ihrer verstorbenen Schwester, Frl. Wilhelmine Freckmann, eingehend überprüft. Ich habe dabei festgestellt, daß Ihre Schwester tatsächlich am 30.6.1941 unerwartet an Grippe und Kreislaufschwäche in der Landesheil- und Pflegeanstalt Hadamar verstorben ist. Von dem Ableben wurde am gleichen Tage Frl. M. Freckmann, Kassel, Orleansstr. 41, in Kenntnis gesetzt. Irgendein Versäumnis der Anstalt liegt nicht vor.“

In einem Schreiben der Gedenkstätte Hadamar an den Verfasser heißt es: „Nach der Ermordung der Menschen wurden die Patientenakten nach Berlin verschickt. Dort sind sie zum großen Teil bis Kriegsende vernichtet worden. Dies geschah zumindest zum Teil absichtlich durch das dortige Personal. Die verbliebenen Akten wurden von der Stasi archiviert. In den 1990er Jahren sind diese Akten ‚wiederentdeckt‘ worden und in die Bestände des Bundesarchivs Berlin überführt worden. Für die 1941 über 10.000 in Hadamar ermordeten Menschen befinden sich dort heute etwa 2.500 – 3.000 Akten. Leider ist unseren Unterlagen zufolge die Patientenakte nicht mehr erhalten, so dass wir nicht in der Lage sind nähere Angaben zur Kranken- und Verfolgungsgeschichte zu machen.“

 

*Epilog

Der Anstaltsleiter von Weilmünster Dr. Ernst Schneider wurde 1945 aus politischen Gründen abgesetzt, und bereits seit diesem Jahr ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen ihn. Eine Anklage wurde jedoch nie erhoben. Man war zu dem Schluss gekommen, die Tatvorwürfe im Zusammenhang mit den Deportationen nach Hadamar und Morden in der Anstalt Weilmünster selbst seien nicht belegbar. Seit 1952 erhielt er bis zu seinem Tod die üblichen Versorgungsbezüge.

 

Quellen und Literatur

 

Gedenkstätte Hadamar: Schriftliche Auskunft vom 12.2.2021

Auskünfte, Fotos und Dokumente zur Familie, zur Verfügung gestellt von Gertrud Freckmann-Cordes und Klaus Freckmann

 

Ernst Klee (Hg.), Dokumente zur „Euthanasie“, Frankfurt/Main 1985

Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Geschichte und Gedenken. Orte der „Euthanasie“-Verbrechen in Hessen, Kassel 2019

 

Weblinks

Der virtuelle Gedenk- und Informationsort www.gedenkort-t4.eu zu Weilmünster

Gedenkstätte Hadamar

Zur Gekrat und den Grauen Bussen

 

 

Der Stolperstein für Wilhelmine Freckmann wurde angeregt von ihrer Nichte Gertrud Freckmann-Cordes.

 

Wolfgang Matthäus, März 2021

 

(siehe auch die Schicksale von Wilhelm Kleinschmidt, Luise Nauhaus und Helmut Wurr)

 

 

 

 

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