MIROW  Dr. Franz Mirauer

Friedrichsplatz  Staatstheater (Eingang Großes Haus)

Heute sind am Kasseler Staatstheater Künstler und Mitarbeiter ganz unterschiedlicher Herkunft und Nationalitäten beschäftigt sind. 1933 wäre es ihnen zum Verhängnis geworden.

Schon mit der Übertragung der Kanzlerschaft an Adolf Hitler und der Bildung einer Regierung aus Nationalsozialisten und Deutsch-Nationalen setzte auf der lokalen Ebene ein Prozess der Machtergreifung ein, der seit dem 30. Januar auch offen gewalttätig war. Weder bei den Reichstagswahlen am 5. März noch bei den Kommunalwahlen eine Woche später erreichten die Nationalsozialisten die von ihnen erwartete absolute Mehrheit.  Dennoch demonstrierten sie bereits am 6. und 7. März ihren alleinigen Machtanspruch durch die Hissung der Hakenkreuzfahne auf öffentlichen Gebäuden – so auch dem Rathaus. Was hier vielleicht noch demonstrativen  Charakter hatte, mündete in einen Boykott gegen Juden und eine Welle der Gewalt gegen politische Gegner und Unliebsame, die Ende März mit dem Mord an dem jüdischen Rechtswalt Max Plaut seinen Höhepunkt fand.

Jenseits aller gesetzlichen Grundlagen und auch der inzwischen geschaffenen Ausnahmegesetze wie der Reichstagsbrandverordnung  ging es den Nationalsozialisten auf der lokalen Ebene um die Machtergreifung in den öffentlichen Institutionen – dabei auch im Bereich der Kultur. Gegen das Staatstheater entfachte ihre Zeitung, die Hessische Volkswacht, bereits seit Mitte Februar eine propagandistische Hetze unter der Parole: „Kein Jude darf am Staatstheater bleiben.“ Roland Freisler selbst, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, schrieb hier in „besonders markanter und ultimativer Form“: „Immer wieder haben wir während der Kämpfe der letzten Jahre darauf hingewiesen, in welch unerhörter Weise die deutsche Kunst durch ausländischen, rassefremden Einfluss zerstört wird.“ Er forderte schließlich im Hinblick auf das Staatstheater, „dass ausnahmslos jeder Platz, auf dem sich jetzt rassefremde Bühnenkünstler befinden, frei gemacht wird für hungernde deutsche Bühnenkünstler“ (Hessische Volkswacht, 15.2.33).

Zielscheibe dieser Angriffe waren zunächst der Dramaturg Dr. Franz Mirow, die Opernsängerin Ljuba Senderowna und der Kapellmeister Werner Seelig-Bass, dann auch der Sänger im Opernchor Santo Hornblass, die der antisemitischen „Säuberung“ zum Opfer fallen sollten. Ende März 1933 zielten die Angriffe aber auch auf die Schlüsselposition des Theaters, den Intendanten. Edgar Klitsch, erst seit 1932 in dieser Position, wurde auf Druck der kulturpolitischen Abteilung des Gaus Kurhessen der NSDAP beurlaubt und durch den überzeugten Nationalsozialisten und Operettentenor Willi Schillings ersetzt. Hatte man Klitsch vorgeworfen, kein hundertprozentiger Nationalsozialist zu sein und in seinem Ensemble „Fremdrassige“ verpflichtet zu haben, so betonte Schillings bei seiner Ernennung Ende März, dass er „mit dem ganzen Fanatismus, der ihm als Nationalsozialisten eigen sei“, für das Theater arbeiten werde, wie die Kasseler Post am 27. März schrieb. Bei der pompös inszenierten Übergabe des Staatstheaters an das „neue Deutschland“ marschierten SA, Stahlhelm sowie Vertreter des Heeres und von Wehrverbänden in Uniform auf. Der Intendant beendete die Feier in SA-Uniform mit einer Ehrung für die Toten der NS-Bewegung vor dem Gebäude, das mit einem riesigen Hakenkreuz versehen worden war. Seine ersten Aktionen richteten sich dann gegen die jüdischen Ensemblemitglieder.

Das Staatstheater in der NS-Zeit (Stadtarchiv Kassel) - "Ein Reich, ein Volk, ein Führer"

Den Dramaturgen Dr. Franz Mirauer hatten die radikalen Antisemiten der Hessischen Volkswacht schon am 4./5. März als „Provokation“ bezeichnet und forderten die „Entfernung aller Artfremden vom Kassler Staatstheater, (…) vor allem auch das Verschwinden des Dramaturgen Mirow. (…) Herr Mirow, der unwidersprochen vor nicht allzu langer Zeit Mirauer hieß, ist, wie seine ganze Persönlichkeit, sein Umgang mit den Mitgliedern des Theaters, seine Erscheinung und sein Auftreten beweist, ein Artfremder.“ Einem antisemitischen Stereotyp folgend, agierte Franz Mirow dem Kampfblatt der NSDAP nach weitgehend im Dunkeln: „ Seine Bedeutung wurde äußerlich dokumentiert, indem sein Zimmer, allerdings nur drei Tage lang, zu einem verbarrikadierten Allerheiligsten ausgerüstet wurde.“
Franz Mirow, mit bürgerlichem Namen Mirauer, stammte aus Berlin-Köpenick, wo er am 15. Januar 1898 geboren wurde. Nach dem Besuch der höheren Schule leistete er ab 1915 Kriegsdienst, studierte danach in Berlin und wurde 1923 in Erlangen mit der Arbeit „Zwischenaktsmusik und Bühnenmusik des deutschen Theaters in der klassischen Zeit“ promoviert. Seine Theaterkarriere führte ihn seit 1923 als Hilfsspielleiter und Spielleiter, als Schauspieler, Dramaturg und stellvertretender Intendant an mehrere deutsche Theater und schließlich ab 1930 für zwei Jahre als Dramaturg an das Schauspielhaus in Zürich. Am 1. August 1932 begann sein Engagement in Kassel.
Mirows Entlassung erfolgte einen Tag nach dem Intendantenwechsel am 25. März. Einen Artikel in der Hessischen Volkswacht vom 4. April betitelte das Blatt triumphierend mit: „Deutscher Geist verwaltet das Staatstheater“ und berichtete zudem von einer Verhaftung Mirows, mit der weiterer Druck auf den Dramaturgen ausgeübt wurde und der offensichtlich eine Denunziation zugrunde lag. „Der entlassene jüdische Dramaturg Mirow ist übrigens jetzt von der Polizei festgenommen worden. Die Polizei wurde darauf aufmerksam gemacht, dass Herr Mirow Briefe ins Ausland schickte, die sich in entstellter Form mit den Vorgängen in Deutschland befassten. Daraufhin wurde eine Hausdurchsuchung vorgenommen, und, da die Polizei Herrn Mirow festnahm, anscheinend belastendes Material gefunden.“ Mirow wehrte sich noch vergeblich mit einem Brief an die Intendanz dagegen, sich an der behaupteten sog. „Greuelpropaganda“ gegen Deutschland beteiligt zu haben, verließ dann aber angesichts der Gefahren, die ihm in Kassel drohten, die Stadt. Zuflucht fand er zunächst bei seinem Schwiegervater in Fürstenberg/Oder, danach in Berlin-Schöneberg. In den nächsten beiden Jahren konnte er noch im Ausland tätig sein, zunächst in Amsterdam und dann an einem Wiener Theater, ehe er 1935 wieder nach Berlin zurückkehrte. Aus der Reichstheaterkammer noch im gleichen Jahr ausgeschlossen, blieb ihm nur die Arbeit für den Jüdischen Kulturbund (vgl. Gedenkblatt Seelig-Bass). Zusammen mit seiner zweiten Frau und der 1939 geborenen gemeinsamen Tochter Tana und weiteren 97 Menschen wurde Franz Mirow am 17. Mai 1943 mit dem Transport I/92 nach Theresienstadt deportiert. Zu den 14 Überlebenden dieses Transports zählte die Familie nicht. Franz Mirauer wurde mit dem Transport Em am 1. Oktober nach Auschwitz deportiert und dort ebenso ermordet wie seine Frau und seine Tochter, die man wenige Tage später, am 6. Oktober 1944, gleichfalls dorthin verschleppte.


Wolfgang Matthäus     Juni  2015


Quellen und Literatur
Hessische Volkswacht vom 16.2.1933, 5.3.1933, 9.3.1933, 4.4.1933 | Sven Fritz, Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den Theatern Wiesbaden, Kassel, Mainz und Gießen, in: Hannes Heer / Sven Fritz / Heike Drummer / Jutta Zwilling, Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der „Juden“ und „politisch Untragbaren“ aus den hessischen Theatern 1933 bis 1945, Berlin 2011 | Christiane Engelbrecht u. a., Theater in Kassel, Kassel 1959 |Zur Biografie: http://www.stolpersteine-berlin.de/de/biografie/913 | Zu den Deportationen: http://www2.holocaust.cz/de/victims/PERSON.ITI.545845

 

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