Louis London und Selma London geb. Löwenstern          Lina Dina und Hans Joachim (später John Leslie) London

Schillerstraße 7, 2. OG

Hutschachtel mit der Adresse Marktgasse 15, gekauft zwischen 1903 und 1906 von einem Vollmarshäuser Einwohner (Justus Konrad Wille, Küfer, 1878 - 1906)
Hutschachtel mit der Adresse Marktgasse 15, gekauft zwischen 1903 und 1906 von einem Vollmarshäuser Einwohner (Justus Konrad Wille, Küfer, 1878 - 1906)

Manchmal sind es Zufälle und nur ein einzelner Gegenstand, der zu Opfern des Nationalsozialismus führt. Ein Hausflohmarkt in Vollmarshausen und ein dort gekaufter Zylinder inklusive Hutschachtel weckten meine Neugier. Auf der Schachtel steht:

 

„Magazin London

Inh. Louis London

Cassel

Marktgasse 15“

 

Welche Geschichte aber verbirgt sich dahinter? Meine umfangreiche Recherche ergab, dass Louis London und seine Familie zu den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus gehörten, obwohl sie im Gedenkbuch „Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945“ als solche nicht erwähnt sind. Es kam zum Kontakt mit dem Verein Stolpersteine in Kassel und am Ende stand die Verlegung von vier Stolpersteinen.

 Zeitungsanzeige aus der Casseler Allgemeinen Zeitung, Ausgabe vom Mittwoch, 18.12.1907
Zeitungsanzeige aus der Casseler Allgemeinen Zeitung, Ausgabe vom Mittwoch, 18.12.1907

Der Kaufmann Louis London wurde am 12. Dezember 1877 in Twistringen als Sohn des Schlachtermeisters Isaak London und dessen Ehefrau Dina geborene Löwenbach geboren. Sein Vater verstarb 1888, seine Mutter 1899, jeweils in Twistringen. Er hatte noch den jüngeren Bruder Max, der Lehrer und Kantor an der Neuen Synagoge in Mainz war und 11.2.1944 in Theresienstadt sterben sollte. Um 1900 herum kam Louis nach Kassel. Er wohnte zuerst in Mietwohnungen des Spediteurs Spohr in der Gießbergstraße 36 bzw. Königsstraße 103.

Im November 1900 zog er in die Schillerstraße 19 ins 2. OG. Als Vermieter wird auf der Meldekarte „Löwenstein“ genannt. Allerdings wohnte zur gleichen Zeit eine Etage tiefer die Witwe des Handelsmannes Julius Löwenstern, die in Nentershausen geborene Henriette, geborene Oppenheim. Als Eigentümer des Hauses wird im Kasseler Adressbuch ein Gerichtsdiener P. Jung genannt. Die Witwe Löwenstern hatte offensichtlich Räumlichkeiten an ihren zukünftigen Schwiegersohn untervermietet. Wir können also davon ausgehen, dass die Meldekarte einen Schreibfehler enthält. Wahrscheinlich lernten sich dort Louis und Selma kennen. Am 12. Oktober 1903 gründete Louis das erste Sportgeschäft Kassels mit einer Abteilung für Herrenartikel mit der Geschäftsanschrift Marktgasse 15. Im November 1904 zogen Louis London und die Löwensterns in die Jägerstraße 15 ins 2. OG. Dorthin hatte die Witwe Löwenstern ihre Pension verlegt: Im Adressbuch wird diese nun auch offiziell als Pension ausgewiesen, Hausbesitzer ist der Maurermeister Thele, der selbst in der Wörthstraße 21 wohnte. Selma und Louis heirateten in Kassel am 1.8.1906 und zogen aus der Pension in die erste eigene Wohnung in der Wörthstraße 28.

Die Geschäfte liefen sehr gut: Vor allen Dingen die aufstrebenden Sportvereine aus Kassel und Umgebung kauften bei Louis London ein. Bald schon wurde das Ladengeschäft in der Marktgasse 15 zu klein. Louis London kaufte 1908 schräg gegenüber das Haus Marktgasse 10: Im Erdgeschoss lag das Ladengeschäft, in den Stockwerken eins bis drei befanden sich gut gefüllte Lagerräume. Er beschäftigte zu dieser Zeit durchschnittlich 4 bis 5 Verkäuferinnen und 1 bis 2 Lehrmädchen.

Die Tochter Lina Dina wurde am 29.3.1914 in Kassel geboren. Die Familie zog in eine größere Wohnung um am 1.10.1914: Schillerstraße 7, 2. OG; als Eigentümer wird der Hofzimmermeister, später vereidigte Taxator namens Duphorn genannt. Lina Dina besuchte das Kästner´sche Lyceum, eine private höhere Töchterschule. Am 24.1.1916 wurde Hans Joachim London geboren. Auch er genoss eine hervorragende Schulbildung: zunächst an der Henkel‘schen Privatvorschule und ab 1926 am Wilhelmsgymnasium mit dem Ziel, nach dem Abitur ein Medizinstudium aufzunehmen.

Die Londons lebten in hervorragenden Verhältnissen: Die Kinder bekamen Klavier- und Musikunterricht, der Vater Louis London nahm Gesangsunterricht beim Kammersänger Hans Wuzél. Jedes Jahr fuhren die Londons in den Urlaub für drei bis vier Wochen: nach Bad Nauheim, Wildungen, Reichenhall, Oberstdorf, Seefeld in Tirol, Paris usw. Hans Joachim hatte eine eigene Ski-Ausrüstung und eine kleine persönliche Bibliothek. Zu Hause wurde die Familie von einer Hausangestellten und einer Büglerin unterstützt.

1925 verstarb Selmas Mutter Henriette Löwenstern. Sie betrieb zuletzt in der Jägerstraße 15 eine kleine Pension, teilweise mit Speisehaus auf der 2. Etage. Nur gute drei Jahre später, am 11.8.1929, starb ihr Sohn und Bruder Selmas, der Kaufmann Albert Löwenstern. Er war 1921 und 1923 Mitinhaber der Firma Pfitzenreiter u. Co., dann 1925 Mit-Geschäftsführer der Verbandstoffgesellschaft mbH.

Doch zurück zu seinem Schwager Louis London und dem Geschäft: Im Oktober 1928 kann das Magazin Louis London auf erfolgreiche 25 Jahre zurückblicken. Im Jahr 1933 wird Selma London im Kasseler Adressbuch erstmals als Prokuristin der Firma genannt. Laut einer ehemaligen Angestellten war sie jedoch selten im Verkauf, sondern kümmerte sich mehr um den Einkauf.

 

Entladung des Volkszorns über die miserable Versorgungslage durch Plünderungen am 21. Juni 1919 (Stadmuseum Kassel). Hier in der Marktgasse vor dem "Maganzin London".

Hans Joachim London
Hans Joachim London

Dann wendete sich das Blatt: Bereits am Tag der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 zogen SA-Horden durch die Kasseler Innenstadt und warfen Schaufenster ein. Schon Wochen und Monate vorher hatten sie den Hass auf Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und Sozialisten geschürt. Im Februar 1933 ließ sich der neue Reichskanzler Adolf Hitler von seinen Anhängern in Kassel bejubeln. Hans Joachim sollte in der Schule einen Aufsatz zum Thema „Hitler in Kassel“ schreiben. Dieser Aufsatz war äußerst kritisch verfasst und „schlägt ein wie eine Bombe“. Hans Joachim wurde zwar noch versetzt, der Druck auf den jüdischen Schüler war aber so hoch, dass er und seine Eltern beschlossen, dass er statt eines Medizinstudiums nun ein Handwerk erlernen sollte. Er wurde am 5.4.1933 mit der Versetzung zur Obersekunda von der Schule entlassen und bewarb sich als Lehrling - auch bei Geschäftspartnern seines Vaters. Überall erntete er Absagen mit der Begründung, dass die Handwerkskammer die Beschäftigung von jüdischen Auszubildenden verboten habe. Mit Hilfe der jüdischen Organisation ORT konnte Hans Joachim dann ab März 1934 18 Monate lang in Libau, Lettland, einen „Umschichtungskurs“ mit der Ausbildung zum Maschinenschlosser absolvieren. Er kehrte im September 1935 nach Kassel zurück und musste sich nun im Polizeipräsidium einem detaillierten Verhör unterziehen, sich außerdem jeden Tag auf dem Polizeirevier melden. Nach 20 Tagen wurde ihm gesagt, dass er Deutschland zu verlassen habe, andernfalls würde er im Konzentrationslager landen. Der jüdische Rechtsanwalt Dr. Kugelmann half ihm, seinen Pass zurück zu erhalten.

Er ging nach Palästina und arbeitete dort unter widrigsten Umständen als Autoschlosser. Um eine Rückkehr nach Deutschland nicht unmöglich zu machen, kam er 1936 der Verpflichtung zur Meldung zum Arbeitsdienst beim deutschen Generalkonsul nach. Mit den Eltern bestand über die Post regelmäßig Kontakt, sie unterstützten ihn auch finanziell – trotz der zunehmend schwierigen Lage des Geschäfts.

Dieses hatte seit dem Beginn der NS-Herrschaft unter Boykottmaßnahmen gelitten und zunehmend beträchtliche Einbußen erlitten – unter anderem auch, weil die Sportvereine nicht mehr bei den Londons kauften. Die Angestellten mussten entlassen werden, die letzte im Frühjahr 1938. Mutter und Tochter arbeiteten nun alleine im Geschäft. Dabei war dessen purer Fortbestand nur dank eines gut gefüllten Warenlagers und des privaten Wohlstands der Familie aufrecht zu erhalten gewesen. Am Vorabend der Novemberpogrome wurde im Laden schon kein Licht mehr gemacht, um Kosten zu sparen.

Bereits zwei Tage vor der sog. Reichskristallnacht wurde in Kassel am 7.11.1938 die Synagoge gestürmt. Als sogenannter „Aktionsjude“ wurde Louis London zusammen mit ca. 250 weiteren Männern am 10.11.1938 verhaftet und am 11.11. ins KZ Buchenwald verbracht. Er bekam die Häftlingsnummer 21870. Am 26.11.1938 wurde er wieder entlassen. Mit dieser Aktion wollten die Nazis besonders die wohlhabenderen jüdischen Einwohner zum Verkauf ihres Vermögens zwingen und sie vor allem zur Auswanderung nötigen.

Im Juli 1940 verkaufte Louis London dann zwangsweise das Geschäftshaus mit Grundstück. Eigentlich hatten die Eltern und die Schwester schon nach der Pogromnacht und der KZ-Haft in die USA auswandern wollen. Den Antrag auf ein Visum hatten sie zwar gestellt, er war aber wohl nicht mehr genehmigt worden.

 

Ghetto Riga
Ghetto Riga

Am 8.12.1941 wurden zahlreiche Juden in Kassel von der Gestapo in zwei Turnhallen der Bürgerschulen 1 und 2 an der Schillerstraße kaserniert (heute Arnold-Bode-Schule, Schillerstraße 16). Louis, seine Frau Selma und seine Tochter Lina hatten nicht sehr viel Zeit zu packen bzw. nur wenig an Gepäck dabei, als sie am 9.12.1941 im Sonderzug der Dritten Klasse vom Gleis 13 des Kasseler Hauptbahnhofes zusammen mit mehr als 1000 Menschen aus Kassel und der Region in das Ghetto in Riga deportiert wurden. Denn in der Aufstellung der öffentlich bestellten Versteigerer Karl und Richard Krell vom 17.12.1941 werden unter anderem noch zwei Stadtkoffer und ein Lederkoffer benannt. Aus dem restlichen Inventar geht hervor, dass die Londons in Kassel bis zuletzt im Gegensatz zu anderen jüdischen Einwohnern immer noch relativ wohlhabend waren (u.a. Silberbesteck, eine Silber-Damenuhr, aber auch ein Piano und eine Klavierlampe werden aufgezählt).

Im Ghetto Riga, das seit Dezember 1941 unter der Leitung des als „Menschenfresser“ berüchtigten Obersturmführers Krause stand, waren Tausende jüdischer Menschen zur Zwangsarbeit gezwungen. Riga und seine Umgebung waren aber auch der Ort zahlreicher Massenmorde an den lettischen wie auch aus dem Reich deportierten Juden. Dabei wurde der Wald von Biķernieki in der Nähe der Stadt zum größten Massengrab der NS-Verbrecher in Lettland: Vom Sommer 1941 bis zum Herbst 1944 wurden hier nach unterschiedlichen Quellen 35.000 bis 46.500 Menschen von Sicherheitspolizei und lettischen Hilfskräften umgebracht. Auch das Leben von Louis, Selma und Lina London endete im Wald von Biķernieki. Als offizielles Todesdatum wurde der 5.4.1942 festgelegt.

John L. London in Denver (1955)
John L. London in Denver (1955)

Mitte Mai 1947 verließ Hans Joachim London Palästina Richtung Europa, wo er in der Schweiz ein Visum erhalten hatte. Er wollte gerne wissen, ob es noch lebende Verwandte oder Bekannte gab, und bekam für den Weg zu einer Automobilausstellung nach Prag ein beschränktes Durchreisevisum für Deutschland.

 

„Als sich der Zug Kassel näherte, und ich zum ersten Mal wieder den Herkules sah, begann mein Herz schneller zu schlagen, liebe Erinnerungen einer schönen Kindheit stürmten auf mich ein. … Und nun komme ich in die Vaterstadt. Trümmer, soweit das Auge schaut. Das Haus, in welchem ich meine Kindheit verbrachte: zertrümmert. Das kleine Geschäftshaus: zertrümmert. Ich suche Freunde und Bekannte: beim Bombenangriff umgekommen, verschollen. Adresse unbekannt.

Ich fühle mich einsam, verlassen und unendlich traurig. Ich fahndete nach Verwandten. Keiner mehr am Leben. Ich war der einzige, der übrigblieb. Einige Leute erkannten mich auf der Straße. Es waren frühere Kunden unseres Hauses. Sie waren nett und herzlich und fragten, ob ich nicht wieder ein Sportgeschäft in Kassel eröffnen wolle ….“

 

Hans Joachim kehrte von dem ihm fremd gewordenen Kassel nicht mehr nach Palästina zurück, sondern ging wieder in die Schweiz. Dort hatte er seine spätere Frau, Edith Margret Prawy (ebenfalls Jüdin, Halbschwester des berühmten österreichischen Dramaturgen und Opernkritikers Marcel Prawy) kennengelernt. Sie heirateten 1948 in Wien und beschlossen, Europa hinter sich zu lassen. Sie bekamen 1951 das Einwanderungsvisum in die USA genehmigt und erreichten New York am 13.7.1951. Hans Joachim änderte seinen Namen in John Leslie. Er fand Arbeit bei General Motors und arbeitete sich dort vom Automechaniker zum Ingenieur hoch, seine Frau Edith war Buchhalterin in der Zuckerrübenindustrie. Zusammen kauften sie sich ein kleines Haus in Denver, Colorado. Das Paar blieb kinderlos, ihre freie Zeit verbrachten sie gerne mit Fotografieren und Wanderungen in der Natur. Hans Joachim starb 2001 in Denver, seine Frau Edith 2007. Ihr Vermögen vererbten sie dem Rocky Mountain National Park.    

 

Ulrike Neyer, Februar 2018

Verlegung der Stolpersteine am 14. Juni 2018

 

  

 

Quellen:

 

Stadtarchiv Twistringen (Geburts- und Sterbeurkunden Eltern Louis London, Dank an Herrn Friedrich Kratzsch)

HHStAW Abt. 518 (Entschädigungsakte London, Dank an Peter Haberkorn)

Stolpersteine Familie Max London in Mainz (Dank an Herrn Reinhard Frenzel)

Zeitschrift „Der Israelit“, Ausgabe 25.10.1928 (online auf www.alemannia-judaica.de)

„Casseler Allgemeine Zeitung“, Ausgabe vom Mittwoch, 18.12.1907 (auf Mikrofilm in der Murhardschen Bibliothek, Herausgeber Familie Gotthelft)

Stadtarchiv Kassel (Meldekarte Louis London, Versteigerungsliste Krell, Dank an Herrn Florian Franzmann bzw. Dr. Stephan Schwenke)

Kasseler Adressbücher (online unter: https://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/toc/1382947338432/0/LOG_0000/)

Heirats-, Geburts- und Sterbeeinträge aus Kassel teilweise online einsehbar unter: http://www.lagis-hessen.de/de/subjects/gsearch/sn/pstr?q=Kassel&fq[]=landkreis:Kassel,%20Stadt

Privatfotos und Auswanderungsdokumente zur Verfügung gestellt vom Nachbesitzer des Hauses der Londons in Denver, Colorado, USA (Dank an Warren Jones)

 

 

Die Ziele des Vereins

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TERMINE  2024

17.3. und 24.3.2024

jeweils 14.00 Uhr

Treffpunkt Haltestelle Annastraße (Platz der 11 Frauen)

Führung zu "Stolpersteine und die Zerstörung jüdischen Lebens im Vorderen Westen" im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus.

Teilnahme kostenlos

29.06.2024 Verlegung von Stolpersteinen mit Gunter Demnig