Erna und Willi Paul

Mittelgasse 8 (früher 22)

Erna und Willi Paul 1937 in ihrer Wohnung. Wenige Tage später floh Willi Paul in die Niederlande.
Erna und Willi Paul 1937 in ihrer Wohnung. Wenige Tage später floh Willi Paul in die Niederlande.

Erna und Willi Paul gehörten der „Freien Arbeiter-Union Deutschlands“ (FAUD) an, einer kleinen, aber sehr aktiven Gruppierung am linken Rand der Kasseler Arbeiterbewegung. In ihrer Grundsatzerklärung aus dem Jahr 1919 „lehnte sie“, wie Kammler schreibt, „den Parlamentarismus, die politischen Parteien und zentralistische Gewerkschaften als Instrument der sozialen Umwälzung ab. Statt dessen setzte sie auf eigene lokale Gewerkschaftsgruppen, die – nur locker in einer Föderation verbunden – im wirtschaftlichen Kampf mit den Mitteln von Streik, Boykott und Sabotage die Arbeiter in direkter Aktion mobilisieren und zur Durchsetzung der sozialen Revolution befähigen sollte. Als Endziel galt den Anarcho-Syndikalisten eine von staatlich-bürokratischer Herrschaft befreite Gesellschaft auf der Basis ein dezentral organisierten, selbstverwalteten und solidarischen Bedarfsdeckungswirtschaft“ (Kammler, Ausgangslage, S. 322).

 

Der gelernte Tischler Willi Paul wurde am 1.7. 1897 in Göttingen geboren. 1915/16 arbeitete er als Metallarbeiter und war anschließend Soldat im Ersten Weltkrieg. Nach dessen Ende kam er nach Kassel und organisierte sich zunächst in der USPD und dann im Spartakus, die in der Stadt kaum von Bedeutung waren. Auf Initiative von Josef Hodeck war er einer der Mitbegründer der kleinen örtlichen FAUD-Gruppe, die in der Zeit bis 1933 maximal 20-30 Mitglieder zählte, die in erster Linie propagandistisch tätigt waren, vor allem die Zeitschriften „Der Syndikalist“ und „Der freie Arbeiter“ auf der Straße verkauften, was Willi Paul 1923 eine Anklage wegen „Aufruf zum Generalstreik“ einbrachte. Daneben organisierte man Veranstaltungen, unter anderem auch mit Erich Mühsam. Beim Zeitungsverkauf lernte Willi Paul die am 5.3.1906 in Mainz geborene Erna Schüssler kennen, die zu diesem Zeitpunkt Mitglied im Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) war, diesen aber 1923/24 verließ, um sich bald danach gleichfalls der FAUD anzuschließen. Die beiden heirateten 1926. Die Tochter Sascha wurde 1927, der Sohn Rudolf 1928 geboren.

„Ich ging damals zur syndikalistischen Gewerkschaftsorganisation, da ich hier die Freiheit am stärksten ausgeprägt fand gegen jeden Zwang, Unterdrückung und Despotie“, schrieb Willi Paul nach dem Krieg in seinem politischen Lebenslauf. Und Erna Paul begründete ihren Bruch mit den Kommunisten später so: „Denn vom Proletariat kann keine Diktatur kommen, (…) - da kann man nur von unten irgendetwas aufbauen, aber nit von oben.“ Die antiautoritäre Splittergruppe, der sie sich angeschlossen hatten, war politisch vital und intellektuell interessiert, wie Kammler schreibt. Ihr fehlte jedoch die Verankerung in den Betrieben, zumal die meisten ihrer Mitglieder im Laufe der 20er Jahre arbeitslos wurden und es – wie Willi Paul seit 1926 – auch blieben. Ihr Hauptaugenmerk richteten sie deshalb auf die Erwerbslosenbewegung. Seit 1930 gab die Kasseler Gruppe die kleine Zeitschrift „Die proletarische Front“ heraus, in der unmittelbare Revolutionserwartungen und Hoffnungen auf die große umwälzende Aktion artikuliert wurden. Mit der KPD teilte die Kasseler FAUD den Sozialfaschismusvorwurf gegenüber der SPD.

Links: Die Kasseler AUFD-Gruppe 1922 mit Willi Paul (Zweiter von links in der mittleren Reihe).

Rechts: Der Verkauf dieser Zeitschrift brachte Willi Paul eine Anklage ein.

 

Willi Paul mit Freunden 1937 in Holland
Willi Paul mit Freunden 1937 in Holland

Widerstand

 

Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten engagierten sich die meisten der zu diesem Zeitpunkt etwa 15 Kasseler FAUD-Mitglieder im aktiven Widerstand. Willi Paul verkaufte noch am Tag nach dem Reichstagsbrand den „Syndikalist“. Danach stellte er mit der Gruppe illegal Zeitungen her („Proletarische Front“, „Die Kommenden“, „Die Internationale“), die an Genossinnen und Genossen auch in anderen Regionen verteilt wurden. Wohnung und Garten der Pauls in der Mittelgasse 22 wurden in dieser Zeit zu dem Ort, wo die Kasseler Gruppe solidarisch ihren Zusammenhalt aufrecht erhielt, sich wöchentlich traf und diskutierte. Nach einer Hausdurchsuchung nahm die Gestapo Willi Paul am 14. Oktober 1933 in „Schutzhaft“, aus der er am 9.11.1933 entlassen wurde, nachdem er unterschrieben hatte, sich nicht mehr „staatsfeindlich“ zu betätigen. Am 15. März 1937 floh er nach Holland, nachdem Gerede in der Nachbarschaft einen weiteren Verbleib in Kassel als zu gefährlich erschienen ließ. Fred Schröder, ein anderer Mitglied der FAUD in Kassel, war bereits 1933 in die Niederlande geflohen, wohin man schon früh Verbindungen aufgebaut hatte. Willi Paul blieb jedoch nur kurz in Amsterdam und ging schon im April „nach dem für seine Freiheit kämpfenden Spanien. Meine aktive Haltung gegen das Hitlerregime gebot mir gleich wo einzutreten“, schrieb er später in seinem politischen Lebenslauf.

 

Anarchistische Milizen übernehmen 1936 die Macht in Katalonien.
Anarchistische Milizen übernehmen 1936 die Macht in Katalonien.

Willi Paul im Spanischen Bürgerkrieg

 

Als der deutsche Anarchosyndikalist im April 1937 nach Barcelona kam, war er (ähnlich übrigens wie Willy Brandt) „erstaunt über die ganz neuen Verhältnisse.“ (zit. nach Mümken, Anarchosyndikalismus, S. 76). Anders als in Deutschland hatte der Anarchismus in der spanischen Arbeiterschaft eine breite Basis. Die Confederación Nacional del Trabajo (CNT) und die Federación Anarquista Ibérica (FAI) verfügten über weit mehr als zwei Millionen Mitglieder. In Katalonien hatten sie 1936 den faschistischen Putsch niedergeschlagen, die Macht übernommen und sofort mit einer sozialen Revolution begonnen (Selbstverwaltung  der Betriebe, Kollektivierung der Landwirtschaft u. a.). Ein britischer Journalist  sprach von Barcelona als der „merkwürdigsten Stadt der Welt, wo Anarcho-Syndikalisten die Demokratie aufrecht erhalten, Anarchisten für Ordnung sorgen.“  

Als Willi Paul in der katalanischen Hauptstadt eintraf, stand aber das Ende der anarchistischen Herrschaft schon kurz bevor. Er geriet schon bald in die auch blutig ausgetragenen Konflikte innerhalb des republikanischen Lagers zwischen seinen Gesinnungsgenossen und (Rechts-) Sozialisten und von der Sowjetunion unterstützten Kommunisten, die in einem Bürgerkrieg innerhalb des Bürgerkrieges im Mai die anarchistische Revolution beendeten. Im Rahmen der nun folgenden Repressionswelle wurde Willi Paul zweimal verhaftet und u. a. durch einen früheren Kasseler Kommunisten verhört. Der Prozess drei Monate später endete mit Freispruch.

Dem CNT blieb der Kampf gegen die Franco-Truppen. Paul schloss sich der Division Ascoso an und kämpfte bis zum August 1938 an der Aragon-Front. Verletzt verließ er Spanien noch vor Ende des Krieges und gelangte über Paris wieder nach Amsterdam, wo inzwischen Frau und Kinder wohnten.

 

Erna Paul in Holland

 

Erna Paul reiste das erste Mal am 1. August 1937 nach Amsterdam, um etwas über ihren Mann zu erfahren – allerdings vergeblich. Nach drei Wochen zurück in Kassel erfuhr sie dort, dass die Gestapo nach ihr gesucht hatte. Noch in der gleichen Nacht floh sie  mit ihrem Sohne Rudolf und ihrer Tochter Sascha erneut nach Amsterdam, wo sie die meiste Zeit in einer Mansarde in der Rijnstraat 38 wohnte und auf die Unterstützung  des syndikalistischen „Fonds  Internationale Solidarität“ (FIS) angewiesen war. Zum Lebensunterhalt reichte diese nur, weil Eltern von Klassenkameraden ihrer Kinder der Familie zusätzlich mit Lebensmitteln oder Kleidungsstücken wenigstens zum Existenzminimum verhalfen. Arbeiten durfte Erna Paul nicht, ein Antrag auf Legalisierung ihres Aufenthaltes lehnten die Behörden ab, stattdessen verfügten sie die Ausweisung. Diese hing als Drohung über dem Leben der Familie bis zum deutschen Überfall und der Besetzung der Niederlande im Mai 1940.

Erna Paul lebte nun, wie der Regierungspräsident 1958 es charakterisierte, „unter haftähnlichen und menschenunwürdigen Bedingungen“. (HHStA 518 4098). Sie war, wie sie selbst schrieb, „von jedem normalen Leben ausgeschlossen“ (ebda.). „Es war seit der Besetzung sehr gewagt, mich von meiner Wohnung weit zu entfernen. So war ich in meiner Bewegungsfreiheit fast auf meine Wohnung beschränkt. Auf der Straße konnte ich jeden Moment verhaftet werden. (…) Dadurch war ich seelisch in einem dauernden Angstzustand.“ Am 17. Mai 1941 wurde Erna Paul von der Gestapo verhaftet und nach Kassel überführt.

 

Prozesse, Gefängnis, Konzentrationslager und Strafbataillon 999

 

Nachdem bereits vorher Mitglieder der FAUD verhaftet worden waren, holte die Gestapo im Mai/Juni 1941 zum Schlag gegen die noch verbliebenen Kasseler Mitglieder aus. Untern ihnen wurde auch Erna Paul verhaftet, gegen die der Prozess erst ein Jahr später, im Mai 1942 geführt wurde. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ erhielt sie eine Haftstrafe von 15 Monaten, nach deren Verbüßung  sie als Schutzhäftling vom 25.8. bis 19.10.1942 im Arbeitserziehungslager Breitenau und danach im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert war, ehe sie am 24. April 1945 befreit wurde.

Willi Paul geriet nach seiner Rückkehr nach Amsterdam als „Illegaler“ in eine Polizeikontrolle und wurde von März bis September 1939 dort im „Huis van Bewahring“ als politischer Emigrant inhaftiert. Zunächst nach Belgien abgeschoben, verbracht man ihn nach dem deutschen Überfall auf die Niederlande und Belgien von Antwerpen nach Südfrankreich, wo er in den Lagern St. Syprien und Gurs sowie dem Straflager Vernet interniert wurde. Über das Lager St. Syprien schrieb Paul 1949 in einem Brief an den Regierungspräsidenten in Kassel: „Eine Sandwüste mit Baracken am Mittelmeer. Leere Baracken – ohne Betten – nur Sand. Pro Mann zwei Decken – Lager im Sand. Nachts kein Schlaf wegen Hydriaden von stechenden Sandflöhen. Das Lager umgeben von hoher Stacheldrahtumzäunung … Sanitäre Verhältnisse gleich Null, obwohl fast alle von der Ruhr befallen sind …“. Und über das Straflager Vernet: „Während man in anderen Lagern gut Möglichkeiten hatte zu flüchten, waren hier in Vernet die Dinge vollständig aussichtsslos. … Das Lager war von franz. Gendarmen bewacht. Alles vollzog sich unter aufgepflanztem Bajonett. Ob dieses bei der Arbeit, beim Essen holen oder Closettkübel ausleeren war. Es bestand Arbeitszwang.“ (zit. nach Mümken, Anarchosyndikalismus, S. 81ff.). Die Gestapo, die in Kassel über den Aufenthaltsort von Paul Bescheid wusste, sorgte im Mai 1942 für seine Auslieferung. Im Prozess, der ihm vor dem Oberlandesgericht gemacht wurde, erhielt er eine sechsjährige Haftstrafe und saß bis zum 10. Juli 1943 im Zuchthaus Ziegenhain ein. Zu diesem Zeitpunkt zwang man ihn in das Strafbataillon 999, in das angesichts der Kriegslage nun eigentlich „Wehrunwürdige“ eingezogen wurden. Zunächst auf dem Heuberg ausgebildet, kam Willi Paul über Griechenland als Soldat an die Ostfront, von der man aber politische Gegner des NS wie ihn wieder abzog, danach zu einer Bau-Pioniereinheit im Westen, bevor ihn die US-Army am 25. März 1945 bei Rhens am Rhein befreite, aber bis 1946 gefangen hielt.

 

Nachkriegszeit

 

Erna und Willi Paul kehrten beide nach Kassel zurück und waren nach wie vor politisch engagiert. Willi Paul beteiligte sich bei der Gründung der Föderation freiheitlicher Sozialisten (FfS), einer Nachfolgeorganisation der FAUD. Als Autor schrieb er für die libertären Zeitschriften Zeitgeist und Akratie, unter anderem kritisch gegenüber der RAF. Er starb am 27. April 1979. Erna Paul erhielt 1989 von Oberbürgermeister Hans Eichel für ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus die Auszeichnung mit der Stadtmedaille. Sie starb am 26.7.1998 in Vellmar-Frommerhausen.

 

 

Quellen und Literatur

 

HHStAW 518 Nr. 5610 und 4098 (Wiedergutmachungsakten Willi und Erna Paul)

StadtA Kassel A.5.55. Nr. 315 (Amt für Wiedergutmachung) - Weitere Quellen befinden sich im Bestand INN (Informationsstelle zur Geschichte des NS in Nordhessen). Sämtliche Unterlagen der Informationsstelle zur Geschichte des NS in Nordhessen, die aus einem Forschungsprojekt an der Universität stammen, können bis auf Weiteres im Stadtarchiv Kassel nicht eingesehen werden. So auch die Interviews, die vor Jahrzehnten mit Erna und Willi Paul geführt wurden und früher im Stadtarchiv einsehbar waren.

 

Kammler, Jörg: Zur historischen Ausgangslage des Arbeiterwiderstandes: Die Kasseler Arbeiterbewegung vor 1933, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Bd. 2, S. 291ff.

ders.: Widerstand und Verfolgung – illegale Arbeiterbewegung, sozialistische Solidargemeinschaft und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum Nationalsozialismus, in; Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Bd. 2, S. 325ff.

Mümken, Jürgen: Anarchosyndikalismus an der Fulda. Die FAUD in Kassel und im Widerstand gegen Nationalsozialismus und Faschismus. Mit einer Einleitung von Helge Döhring, Frankfurt/Main 2004

ders.: Im Kampf gegen Hitler und Franco – Zum 25. Todestag des Spanienkämpfers Willi Paul, in: Direkte Aktion, Nr. 163 (http://www.juergen-muemken.de/texte/artikel08.htm)

https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Paul

 

Wolfgang Matthäus

Februar 2018

Verlegung der Steine am 14. Juni 2018

 

 

 

 

 

 

Luftbild aus den 1930er Jahren von Teilen der Kasseler Altstadt. Sie war vor 1933 die Hochburg der Arbeiterparteien SPD und KPD. Rechts der Marställer Platz.

Die Familie Paul wohnte in der Mittelgasse (Pfeil).

 

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