Helene und Siegfried Pincus

Friedrich-Engels-Straße 26 (früher Kronprinzenstraße)

Siegfried Pincus (um 1915)
Siegfried Pincus (um 1915)

Die Familie

 

Siegfried Pincus stammte aus Breslau. Er wurde dort am 2. März 1862 geboren, besuchte ein Gymnasium bis zur Reifeprüfung und machte eine kaufmännische Ausbildung in der Wollbranche, in der er Zeit seines Lebens tätig blieb. 1895 kam er nach Kassel, in der Meldekartei zunächst als „Handlungskommiss“, später als „Fabrikant“ bezeichnet.

Seine Ehefrau Helene stammte aus Frankfurt am Main und wurde dort am 17. September 1875 als Tochter des Weinhändlers Jacob Loewi und seiner zweiten Frau Anna geb. Willstätter geboren. Ihr Bruder war der spätere Nobelpreisträger für Medizin Otto Loewi, ihre Stiefschwester Fanny Alice, die den Kasseler Theodor Gotthelft heiratete, den Vater von Frieda Sichel, für deren nach Südafrika emigrierte Familie in Kassel Stolpersteine verlegt sind. Nach ihren eigenen Angaben im Entschädigungsverfahren hatte sie den Beruf der Lehrerin erlernt. Siegfried Pincus und Helene heirateten am 12. September 1897 in Frankfurt am Main. Das Ehepaar hatte zwei in Kassel geborene Töchter: Margarete (1898) und Katharine (1899.)

 

 

Grete und Käthe Pincus (etwa 1906-1908 und 1915); Helne Pincus; Familienfoto um 1933. Hinten von links nach rechts: Siegfried Pincus, Grete Isserlin, Helene Pincus, Hermann Dreyfuss, Aron Isserlin mit der Tochter Miriam. Vorne: Karl (Charles) Dreyfuss und Gabriel Isserlin

Beiden Töchtern gelang es im Nationalsozialismus, ins rettende Ausland zu gelangen. Die als medizinische Assistentin ausgebildete Margarete heiratete 1926 den Mediziner und Psychiater Dr. Aron Isserlin, mit dem sie die beiden Kinder Gabriel (geb. 1927) und Miriam (geb. 1931) bekam. Die Familie wanderte 1935 nach Tel Aviv in Palästina aus. Käthe (später Catherine) heiratete Hermann Dreyfuss, mit dem sie in Mannheim ein Schmuckgeschäft führte. Mit dem Sohn Karl (Charlie) emigrierte das Ehepaar 1938 nach New York, wo Hermann Dreyfuss bereits im Jahr darauf starb. Käthe, die in zweiter Ehe Dr. Ernest Kovacs geheiratet hatte, starb 2001 im Alter von 102 Jahren.

 

Die Wollwäscherei

Siegfried Pincus‘ Wirken in Kassel ist vor allem mit dem Kupferhammer verbunden, einer ursprünglich frühindustriellen Produktionsstätte am Rande der Stadt vor Kaufungen, die im Zusammenhang zu sehen ist mit dem Messinghof. Nachdem die Verarbeitung von Kupfer dort im 19. Jahrhundert eingestellt worden war und nach einer Nutzung durch eine Brauerei erscheint hier 1904 zum ersten Mal eine Dampfwollwäscherei, in der industriell das geschorene Wollvlies von dem ihn anhaftenden unerwünschten Bestandteilen gereinigt wurde. Deren Inhaber waren Moritz Katz, Jacob Lewandowski und Siegfried Pincus, von denen Moritz Katz aus der Firma ausschied. Für Jacob Lewandowskis Sohn Herbert war das Fabrikgelände offenbar ein Abenteuerspielplatz: „Bei meines Vaters Fabrik, der eine dreiviertel Stunde von der Endstation der Linie 3 in Bettenhausen gelegenen Wollwäscherei H. Katz Sohn, waren viele Terrains, Wiesen, Gärten. Ich ging ab und zu mit einigen Schulkameraden zur Fabrik, wir baten den Heizer im Kesselhaus den Dampfhahn aufzudrehen, und schauten mit leisem Gruseln dem wie ein zischender Teufel herausfahrendem Dampf zu, wir spielten im Lagerhaus zwischen den riesigen Wollballen Verstecken (…) oder wenn wir des etwas unheimlichen Zeitvertreibs müden waren, vergnügten wir uns im Garten beim Schmausen der Erd- und Johannesbeeren.“  (Lewandowski, Kindheitstage, S. 55f.). Vielleicht spielten ja auch Siegfried Pincus‘ Töchter dort.
Genau ist die Geschichte von H. Katz Söhne nicht aufzuklären. Offenbar geriet sie in die Turbulenzen der Inflationszeit und musste liquidiert werden. Jedenfalls fehlt der Betrieb 1923 im Adressbuch, ehe die Wollwäscherei 1925 unter dem Namen „Casseler Wollwäscherei A. G.“ wieder auftaucht, der seit 1926 Siegfried Pincus vorsteht. Er betrieb zumindest 1920/21 im Kupferhammer auch die Wollhandlung Pincus und Co., während seine Frau Helene im Aufsichtsrat der neu gegründeten Aktiengesellschaft saß. Am 23.12.36 erfolgte die Umwandlung der A.G. in eine Kommanditgesellschaft durch Übertragung des gesamten Vermögens auf die „Kasseler Wollwäscherei Pincus Kommanditgesellschaft“ mit den Kommandantisten Helene Pincus, Victor Karl Oppenheim (Fabrikant) und Dr. Leopold Oppenheim (Rechtsanwalt) sowie Siegfried Pincus als persönlich haftendem Geschäftsführer. Dieser war Ende 1937 im Rahmen des Drucks auf jüdische Unternehmen zur „Arisierung“ gezwungen, das Unternehmen zu veräußern. Am 28.12.37 erfolgte der Verkauf der Dampfwollwäscherei an den Kaufmann Walter Geißler zum Preis von etwa 90.000 RM. Geißler bezahlte Anfang der 1950er Jahre dann im Rahmen eines Rückerstattungsverfahrens und eines Vergleichs 45.000 DM, offenbar da der Kauf 1937 weit unter Wert getätigt worden war.

Der Kupferhammer in einem Junkers-Schrägluftbild (1928)

 

Gescheiterte Auswanderung

Nach dem Verkauf des Unternehmens und nach den Pogromen waren Helene und Siegfried Pincus mehrfach gezwungen umzuziehen: am 1. September 1939 in die Kaiserstraße 71 (Goethestraße), am 1. August 1940 in die Amalienstraße 11, am 30. September 1941 in die Kölnische Straße 51 und schließlich am 30. Januar 1942 in die Schillerstraße 7, wo man in Kassel verbliebene Juden konzentrierte.
Im April und Mai 1944 ließ der deutsche Oberste Kommissar  der Operationszone „Adriatisches Küstenland“ bei dem Spediteur Marangoni in Triest einen Lift und eine Kiste mit insgesamt fast vier Tonnen Gewicht beschlagnahmen. Er enthielt Möbel für mehrere Zimmer, Hausrat, Gemälde, Wertgegenstände und Kleidung des Ehepaars, das sich nun der deutsche Staat aneignete. Wann dieses Auswanderungsgut auf den Weg gebracht wurde und mit welchem Ziel, ließ sich nicht ermitteln. Zu vermuten ist, dass es nach Palästina gebracht werden sollte, wo in Tel Aviv die Tochter mit ihrer Familie lebte, zu der die Eltern wahrscheinlich kommen wollten.
In einem Entschädigungsverfahren Ende der 1950er Jahre war das Land Hessen nicht willens, die Transportkosten des Lifts zu entschädigen, da das Ehepaar Pincus ja nicht ausgewandert sei. Helene Pincus‘ Anwältin hielt dem den „Einwand der Arglistigkeit entgegen“: „Das beklagte Land wird nicht in Abrede stellenkönnen, dass die Eheleute Pincus anstelle der Deportation nach Theresienstadt lieber ausgewandert wären. Dass die Auswanderung nicht erfolgt war, haben die Eheleute Pincus jedenfalls nicht zu vertreten.“ 

Ankunft von Familien in Theresienstadt - "Dachboden" - Zeichnung des Häftlings Bedrich Fritta

Bezugsschein für Helene Pincus aus dem Ghetto Theresienstadt
Bezugsschein für Helene Pincus aus dem Ghetto Theresienstadt

Deportation nach Theresienstadt

Helene und Siegfried Pincus wurden Opfer der dritten Deportation aus dem Regierungsbezirk Kassel am 7. September 1942, deren Ziel das Ghetto Theresienstadt war. Jetzt ging es darum, „die restlichen Juden aus dem Regierungsbezirk Kassel“ abzuschieben, wie die Staatspolizeistelle Kassel den betroffenen Stellen am 25. August mitteilte, und zwar wirklich „restlos“ (zit. nach Matthäus, S. 201). Damit setzte der NS-Staat um, was bereits im Protokoll der Wannseekonferenz Ende Januar 1942 angekündigt worden war: „Es ist beabsichtigt, Juden im Alter von über 65 Jahren nicht zu evakuieren, sondern sie einem Altersghetto - vorgesehen ist Theresienstadt - zu überstellen.“ Ein „Altersghetto“ täuschten Staatspolizei und Finanzbehörden den Opfern vor, die wie das Ehepaar Pincus einen Heimeinkaufsvertrag zu unterschreiben hatten, der offiziell mit der Reichsvereinigung der Juden zu schließen war und dazu diente, sie ihres restlichen Vermögens zu berauben. So mussten Helene und Siegried Pincus als „Einkaufsbetrag“ die horrende Summe von 22.702,80 RM in bar und 70.000 RM in Wertpapieren nominal entrichten. Mit Schreiben vom 27. August 1942 entzog ihnen der Regierungspräsident in Kassel auf Grund des „Gesetzes über die Einziehung kommunistischen Vermögens (…) in Verbindung mit dem Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens“ ihr gesamtes Vermögen.
Mehr als 90.000 RM dienten also dazu, um in eine nach dem Vertrag „Gemeinschaftsunterbringung“ zu gelangen, in der todbringende Lebensbedingungen herrschten und die in Wirklichkeit vornehmlich eine Zwischenstation auf dem Weg in die Vernichtung war. In Theresienstadt starben weit mehr als 33.000 Menschen an Erschöpfung und Krankheit, über 86.000 von dort Deportierte ermordete man vor allem in den Vernichtungslagern des Ostens.
Die Ankömmlinge aus Kassel trafen in den „wilden Monaten“ des im Sommer von der SS eingerichteten Ghettos ein, und der September, in dem allein mit 38 Transporten mehr als 18.000 Menschen kamen, war der „bewegteste und vielleicht der schwerste Monat“ (H. G. Adler), in dem fast 4.000 Menschen bei den offenbar chaotischen Zuständen starben und in dem zeitweise die Bevölkerungszahl auf etwa 56.000 stieg. Dem Einzelnen blieb noch ein „Wohnraum“ von durchschnittlich nicht einmal zwei Quadratmetern, den meisten aber weniger. Bis Ende des Jahres 1942 waren von den Deportierten aus der Kasseler Region bereits 138 Menschen den katastrophalen hygienischen Bedingungen und der vollkommenen Unterernährung erlegen. Die Überlebende Selma Hammerschlag berichtete später von mitunter 200 bis 300 Toten täglich. Auch der inzwischen fast 81 Jahre alte Siegried Pincus starb bereits nach wenigen Monaten im Ghetto am 28. Januar 1943.

 

Überleben


Helene Pincus konnte erleben, wie das Ghetto am 2. Mai 1945 unter die Obhut des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz kam und am 8. Mai von der russischen Armee befreit wurde, durfte ihre Haftstätte aber nicht unmittelbar verlassen. Wegen einer Fleck- und Bauchtyphusepidemie wurde das Ghetto unter Quarantäne gestellt. Erst nachdem diese im Zusammenwirken von tschechischen Behörden, Roter Armee und ehemaligen Häftlingen eingedämmt werden konnte, begann die Repatriierung. Helene Pincus gelangte mit 700 weiteren Menschen aus Theresienstadt in das Camp für Displaced Persons in Deggendorf (Niederbayern). Ein glücklicher Zufall wollte es, dass ihr Enkelsohn Charles Dreyfuss als Corporal der US-Army sie dort fand und der Familie umgehend die freudige Nachricht von ihrem Überleben übermitteln konnte (siehe Telegramm).

Haftbescheinigung für Helene Pincus durch das D. P. Center Deggendort

Telegrafische Nachricht, dass Helene Pincus überlebt hat

Helene Pincus gelangte nach Tel-Aviv, wo sie bei der Familie Isserlin lebte. Ihre Enkelin Miriam Lurie erinnert sich 2018: „Meine Großmutter Helene war eine ‘Dame’- sie beherrschte Deutsch, Englisch und Französisch, ihre Garderobe war immer perfekt. Sie hat im Haushalt geholfen (ich rede von der Tel-Aviver Zeit) und jede Woche kamen die ‘Bridge-Damen’. Auch in Theresienstadt war sie ‘Ehrenamtliche Bridge Lehrerin’. Sie war zufrieden bei uns - hat mit mir im selben Zimmer geschlafen- aber in der Nacht hat sie geschrien- die Erinnerungen … „ Nachdem 1953 ihre Tochter Grete gestorben war, ging sie nach New York zu ihrer zweiten Tochter Käthe und lebte dort zuletzt in einem Elternheim. Sie starb 1963.

 

Dass Stolpersteine für sie und ihren Mann Siegfried verlegt wurden, verdankt sich einem Besuch ihrer Enkelin Dr. Miriam Lurie in Kassel im März 2016 anlässlich dessen die Medizinerin Kontakt mit unserem Verein aufnahm.

Charles Dreyfuss (1946) - die Familie 1946: Aron Isserlin, Miriam Isserlin, Helene Pincus und Grete Isserlin

 

Quellen und Literatur

 

HHStAW 518 69188 und 69189, 519 N/N Nr, 26223

Stadtarchiv Kassel A5.55 - Pincus, A3.37. Nr. 166 Brandschutz), Einwohnermeldekartei, Adressbücher

Fotos und Auskünfte von Miriam Lurie (Israel) im  Besitz von W. Matthäus

Denkmalbuch der Stadt Kassel: Industriedenkmal Kupferhammer, hg. vom Magistrat der Stadt Kassel, Kassel 1998

H. G. Adler, Theresienstadt 1941-1945, Tübingen 1960

Wolfgang Benz, Theresienstadt, München 2013

Lee van Dovsik (Herbert Lewandowski), Kindheitstage in Kassel oder Traum und Trübsal in der Wolfsschlucht, in: ders., Abschiedsgruß. Erzählungen, Darmstadt 1983

Wolfgang Matthäus, Kaiserstraße 13, Kassel 2014

 

Wolfgang Matthäus

März 2018

Verlegung der Steine am 24. Mai 2018

 

Der Kupferhammer im März 2018

Bei einem Besuch am "Gedächtnis der Gleise" im Kulturbahnhof durch Miriam Lurie und Vertretern von "Stolpersteine in Kassel" entstand die Verabredung, für Helene und Siegfried Pincus Stolpersteine zu verlegen.

 

Die Ziele des Vereins

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17.3. und 24.3.2024

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Führung zu "Stolpersteine und die Zerstörung jüdischen Lebens im Vorderen Westen" im Rahmen der internationalen Wochen gegen Rassismus.

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29.06.2024 Verlegung von Stolpersteinen mit Gunter Demnig