Max Oestreicher

Hirzsteinstraße 15

 

Max Oestreicher ist in München am 15. Mai 1898 geboren. Seine Eltern sind Heinrich und Anna Theresia Maria Oestreicher, geb. Wirth. Aus Max Geburtsurkunde geht hervor, dass der Vater mosaisch und die Mutter katholisch ist.  Der Vater ist als Kaufmann bzw. Vertreter im Wolle- und Fellhandel tätig. Am 19. September 1899 wird Erna Maria, Schwester von Max, geboren.

Die Einkünfte des Vaters ermöglichten es, Max auf eine Realschule zu schicken und später ein Studium zu finanzieren. Seine Schwester hingegen macht eine Lehre als Schneiderin.

 

Von Ende 1916 bis November 1918 leistete er Militärdienst bei der Bayerischen Flieger-Ersatz-Abteilung in Schleißheim. Im Januar 1919 wird er als Unteroffizier entlassen. Er trat dann „ins Freikorps Epp ein  und machte die militärische Action hier und ab 1. Juli in Hamburg mit“.  Im Dezember 1919 legte er an der Luitpold-Oberrealschule München die Reifeprüfung ab. Und studierte bis 1923  an der TH München in der Fachrichtung Maschinenbau. Die Diplomprüfung hat er mit „Sehr gut bestanden“.  Während dieser Zeit wohnte er bei seinen Eltern in München, Müllerstraße 43.

 Im Jahr 1928 heiraten Max Oestreicher und Olga Sophie Fanny Krekel im Standesamt München. Seine Frau stammt aus Wiesbaden. Trauzeugen sind Margarete Krekel, Brautmutter und Heinrich Oestreicher.  Als damaliger Wohnort der Brautleute ist Traunstein angegeben.

Am 1. September 1936 meldet sich Max Ö. in Kassel bei der Meldebehörde an. Er zieht als Untermieter beim Klaviermacher Lüpnitz im 2. Stock des Hauses Wolfhager Straße 48 ein. Ein Monat später kommt auch Ehefrau Olga nach Kassel. Beide kamen aus Altenmarkt – Landkreis Traunstein. Im Melderegister ist bei beiden katholisch als Religion eingetragen. Zum Dezember desselben Jahres beziehen sie eine Wohnung in einer Villenkolonie am Döncherand im Westen Kassels. Hirzsteinstraße 15 ist ihre neue Adresse. Laut Adressbuch war es ein zweigeschossiges Haus, das erst zwei oder drei Jahre vorher gebaut worden ist.

StadtA Kassel Hausstandsbuch A3.32. 662 Wolfhager Straße 48
StadtA Kassel Hausstandsbuch A3.32. 662 Wolfhager Straße 48
StadtA Kassel Hausstandsbuch A3.32 283 Hirzsteinstraße 15
StadtA Kassel Hausstandsbuch A3.32 283 Hirzsteinstraße 15

In den Adressbüchern finden sich die Eintragungen Diplomingenieur / Betriebsleiter und eine Telefonnummer. Sie lassen den Schluss zu, dass er eine leitende Stellung innehatte. Ein Rätsel bleibt, welchen Betrieb er geleitet hat.

 

Die Ehe ist kinderlos. Am 9. Januar 1941 verstirbt Olga Oestreicher, geb. Krekel im Alter von 36 Jahren laut Sterberegister an Gebärmutterkrebs/Herzschwäche in Kassel, Hirzsteinstraße 15.

 

Mit den 1935 beschlossenen Nürnberger Gesetzen – Blutschutzgesetz und Reichsbürgergesetz – verschafften sich die Faschisten die pseudorechtliche Grundlage für die Verfolgung der Juden in Deutschland. Rassismus und Antisemitismus waren fortan nicht nur legal, sondern gesetzlich verordnet. Danach gehörte Max Oestreicher zur Kategorie der „Jüdischen Mischlinge 1. Grades“. „Mischlinge“ waren von Verfolgungsmaßnahmen, denen die Juden in der Nazizeit ausgesetzt waren, nicht in gleicher Weise betroffen. Keine Judenvermögensabgabe, kein Judenstern. Allerdings gab es Bestrebungen, jede Vorzugsbehandlung der „jüdischen Mischlinge ersten Grades“ aufzuheben, und die günstigere Einstufung von „Mischlingen“ zu beseitigen. Sie waren mittelbar von Ausgrenzung und Beschränkungen betroffen. Ab 1944 wurden jedoch Mischlinge reichsweit zur Zwangsarbeit in Lagern konzentriert.

 

Am 10. März 1942 wird Max Oestreicher als Schutzhäftling im Gefangenenbuch des Arbeitshauses Breitenau (bei Kassel) als Zugang erfasst. Hinter seinem Namen steht ‚k‘ für katholisch und als Beruf „Dipl-Ing“, aber keine Information zum Haftgrund. Mit hoher Wahrscheinlichkeit dürfte es mit seiner jüdischen Herkunft zusammen hängen. Das der Gestapo unterstellte Arbeitserziehungs-lager (AEL) Breitenau diente seit dem Sommer des Jahres 1940 der Internierung und Bestrafung von Personen, die dem Regime als widerständig und missliebig galten. Bis zu seiner Auflösung am 30. März 1945 wurden hier ungefähr 8.400 Menschen festgehalten. Die Mehrheit der Häftlinge waren ausländische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen. Sie waren in das Lager eingewiesen worden, weil man ihnen „Vergehen" wie Arbeitsverweigerung, Fluchtversuche, Widerstand oder Verstöße gegen diskriminierende Nazi-Gesetze zur Last gelegt hatte. Oestreicher wurde in Breitenau unter der Gefangenennummer 1032 registriert und am 17.4.1942 entlassen bzw. auf Transport geschickt.

 

Vier Wochen später, am 14. Mai 1942 (ein Tag vor seinem Geburtstag), wird Max Oestreicher mit der Häftlingsnummer 41857 in der Effektenkammer des Konzentrationslagers Sachsenhausen registriert. Als Effekten werden persönliche Kleidungsstücke und Gegenstände bezeichnet, die Häftlinge bei ihrer Einweisung abzugeben hatten. Häftlingskategorie: Jüdischer Häftling. Er wird dem Arbeitskommando Großziegelwerk zugewiesen. Die der SS gehörenden Deutschen Erd- und Steinwerke GmbH betrieben hier eine Ziegelei. Hier sollten jährlich 150 Millionen Klinker für die Monumentalbauten der Reichshauptstadt hergestellt werden. Als Arbeitskräfte waren zeitweise bis zu 1.500 Häftlinge eingesetzt. Da die Häftlinge beliebig austauschbar und ersetzbar waren, wurde auf technische Hilfsmittel weitgehend verzichtet. Das Kommando galt als eine besonders gefürchtete Arbeitsstätte mit 10-stündigen Arbeitsschichten. Für ein brutales Regime sorgten die SS-Scharführer Bugdalle und Hofmann mit Willkür und Schikanen. Das Klinkerwerk galt als Strafkommando mit hohen Todesraten, in das neben Neuzugängen jene Häftlinge überwiesen wurden die am unteren Ende der Häftlingsgesellschaft standen. Im Sommer des Jahres 1942 erfuhr die von der SS ausgeübte Gewalt eine Steigerung als innerhalb weniger Wochen dort ca. 200 Menschen – hauptsächlich Homosexuelle aus der Strafkompanie – ermordet wurden.

 

Am 2. Juli 1942, 6 Uhr, wird Max Oestreichers Tod im Sterbezweitbuch des Standesamts Oranienburg mit der fingierten Todesursache „Doppelseitige Lungenentzündung“ protokolliert. Er war 44 Jahre alt.

 

Geburtsurkunde von Max Oestreicher (GebUrk StadtA München, STANM I A 1898)

Sterbebucheintragung des KZ Sachsenhausen (Copy of 1.1.38.1 / 4124935 / ITS Digitals Archive, Bad Arolsen)

           Stolperstein für Vater Heinrich in München
Stolperstein für Vater Heinrich in München

Tom Nowotny aus Stephanskirchen hat den Anstoß für seinen Stein gegeben. Er ist für ihn ein Cousin dritten Grades.

Tom Nowotny war dabei, als am 1. September 2007 der erste Münchner Stolperstein für Heinrich Oestreicher, Vater von Max, verlegt worden ist, auf privatem Grundstück in der Viktor-Scheffel-Str. 19. Er ist auch Verfasser der Biografie. Heinrich ist am 22.7.1942 deportiert und am 15.3.1943 in Theresienstadt ermordet worden. Mutter Anna ist im Januar 1935 in München verstorben, seine Schwester Erna Oestreicher am 30.5.1986 ebenfalls in München.

 

In 1920 / 21 beantragt Max Oestreicher die Zulassung zur Diplomprüfung. In angefügten Lebensläufen schreibt er, dass er bei Ausbruch der Münchner Frühjahrunruhen in das Freikorps Epp eintritt und bei den militärischen Aktionen in München und später in Hamburg mitgemacht hat.

 

Dieses Freikorps war ein militärischer Verband aus Freiwilligen und Zeitfreiwilligen in der frühen Weimarer Republik, darunter vielen korporierten Studenten. Benannt nach seinem Führer, Oberst Franz Ritter von Epp. Es war im Frühjahr 1919 zunächst an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt. Anschließend wurde das Freikorps als Brigade Epp in die Reichswehr übernommen. Dieses und andere Freikorps waren für ihr rücksichtsloses Vorgehen und Erschießungen von Gefangenen und Zivilisten bekannt. Viele Angehörige schlossen sich schließlich rechtsgerichteten Verbänden an und wurden Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen. Dort stellten ehemalige Freikorpsangehörige vor allem die Kader der SA, die während der Machtergreifung eine entscheidende Rolle spielten. Auch später bekleideten Freikorpsleute hohe Ränge bei SS und Gestapo.

 

Diese Phase seines Lebens konnte ihn 20 Jahre später nicht vor der rassistisch motivierten Verfolgung und Ermordung durch seine ehemaligen Kumpane bewahren.

 

Jochen Boczkowski, Oktober 2019 , ergänzt Januar 2020

Lebenslauf
Lebenslauf

 

Quellen:   Stadtarchiv Kassel : Meldeakten,    Stadt KS A 3.32, HB 662 und 283    Adressbücher Kassel

    Landesentschädigungsamt München:   Entschädigungs-Akte Erna Oestreicher  - BEG 574501F51

 https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Stolperstein für Heinrich_Oestreicher_(München).jpg              

Autor des Steinfotos:   Francisco Peralta Torrejón Biografie Heinrich Oestreicher         

                        https://www.google.com/maps/d/viewer?hl=en&mid=1AN41HbAHG-         2N_vTLByOJV0Ts6cejQGCK&ll=48.16176651332121%2C11.575596857899995&z=20

 https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de441225

Christel Trouve: s Klinkerwerk Oranienburg,  Metropol Verlag 2012,  Diss. 2005

Stadtarchiv München: GebUrk, HeirUrk, Biografisches Gedenkbuch der Münchner Juden

Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, GedStätte Sachsenhausen: Auskunft zu Oestreicher.

TU München Archiv:  Anmeldebogen, Lebenslauf, Diplomurkunde 

ITS Bad Arolsen: Auskunft zu Oestreicher

zu Heinrich Oestreicher: http://raunitz.de/sh_tote_opfer/h_oestreicher_in_memoriam.pdf 

Homosexuelle Opfer des NS: http://raunitz.de/sh_tote_opfer/ 

über Klinkerwerk:  https://www.moz.de/nachrichten/brandenburg/artikel-ansicht/dg/0/1/1027415

 

 

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