Jonny Isidor Silberge

Goethestraße 148  (früher Kaiserstraße 148)

Jonny Isidor Silberge wurde am 28.Oktober 1896 als Sohn des begüterten Juwelenhändlers Alexander Silberge und seiner Frau Anastasia Effimova geborene Freimann in Odessa in der Ukraine geboren. Die Großeltern väterlicherseits waren Landwirte und die der Mutter Kaufleute. Er hatte zwei Geschwister, Alexander und Nadia. Nadia hat einen Italiener, Giuseppe Cingarella, geheiratet und wohnte in Genua. Zu Alexander ist der Kontakt verloren gegangen. Jonny Isidor wurde von klein auf im griechisch-orthodoxen Glauben erzogen, besuchte in Odessa die Schule sowie den griechisch-orthodoxen Religionsunterricht. Bei  Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 hielt er sich mit seinen Eltern in Belgien und in Petersburg auf. Nach der Rückkehr  gerieten sie kurzzeitig in die Gefangenschaft der Bolschewiki und verloren Teile ihres Vermögens. 1920 floh Jonny Isidor aus Russland über Konstantinopel und Wien nach Berlin. Dort lebte er ab 1921 und war im Juwelenhandel tätig.  Er war als russischer Flüchtling staatenlos und erhielt einen Nansen-Ausweis (, der alle zwei Jahre zu erneuern war). Bis ins Jahr 1932 lebte er in Berlin, wo er  Anna Krawcyk, geboren am 19.8.1899 in Oppeln, kennenlernte, die er heiratete und mit der er nach Kassel übersiedelte. Ab dem 28.10.1932 waren sie in der Kaiserstraße 148 gemeldet. Er hatte eine Anstellung als Vertreter für Bindegarn bei der Firma Thiemann und Söhne, die ihm von Richard Flechtheim, einem Berliner Kaufmann jüdischen Glaubens, der mit Anna Silberge seit längerem ein Verhältnis hatte, vermittelt worden war.

Jonny Isidor Silberge (aus einem Bericht in der Kurhessischen Landeszeitung) Aufnahme Eberth
Jonny Isidor Silberge (aus einem Bericht in der Kurhessischen Landeszeitung) Aufnahme Eberth

Vier Jahre später, am  4. November 1936 um 11:00 Uhr, wird Jonni Isidor Silberge in das Zuchthaus Kassel-Wehlheiden eingeliefert. 1,74 m groß, 70 kg schwer, Kinn gewölbt, Ohren angewachsen, Augen braun, Haare blond, Zähne lückenhaft, Narbe an der linken Hand, spricht deutsch, französisch und russisch, so lautet die knappe Beschreibung in der Gefängnisakte.

Wie hat es dazu kommen können? Am Abend des 24. April 1936 wurde dem zuständigen Blockleiter der NDSAP von einem Oberstudienrat aus der Kaiserstraße 148 gemeldet, dass  sein Nachbar Damenbesuch empfangen habe. Die Ehefrau sei nicht zuhause, stattdessen halte sich dort eine junge Frau auf. Die herbeigerufenen Gestapoleute trafen in der Tat den Nachbarn und die 21jährige Masseuse [1]  Ilse Bürger an, beide in Bademänteln. Der 40-jährige wurde umgehend inhaftiert. Bei der angeordneten Hausdurchsuchung wurden fünf Bücher beschlagnahmt und eine Reihe von privaten Briefen. [2] Nach mehrwöchigen Verhören, bei denen auch Schläge eingesetzt wurden, wurde Jonny angeklagt, ein „rassenschänderisches Verhältnis“ [3] zu einer „Arierin“ unterhalten zu haben.

Ein Prozess wurde für den 29. September 1936 vor der Großen Strafkammer des Landgerichts in Kassel anberaumt. Das Verhältnis zu Ilse Bürger leugnete Jonny nicht. Er war häufig krank gewesen, hatte unter einer offenen Nierenfistel gelitten und regelmäßige Massagen erhalten. Dadurch hatte er die Masseuse Ilse Bürger kennen gelernt und mit ihr ein Verhältnis angefangen. Dass es dabei zu Geschlechtsverkehr im Sinne des Blutschutzgesetzes gekommen sei, sah das Gericht auf Grund der Aussagen von Ilse Bürger als erwiesen an. „Bei ihrer eidlichen Vernehmung in der Hauptverhandlung gab die Zeugin unumwunden und freimütig zu, dass sie mit dem Angeklagten wiederholt geschlechtlich verkehrt hat und zwar sowohl in ihrem Massagesalon als auch in der Wohnung der Angeklagten.

Strafbar war ein solcher Tatbestand aber nur dann, wenn die „arische“ Abstammung des „Opfers“ und die „jüdische“ Abstammung des „Täters“ auch wirklich nachgewiesen sind.[4] Der Abstammungsnachweis seitens der Masseuse wurde zweifelsfrei durch standesamtliche Dokumente erbracht.  Eine jüdische Abstammung des Angeklagten jedoch konnte das Gericht nicht nachweisen. Um Jonny dennoch verurteilen zu können, kehrte das Gericht die Beweislast einfach um und erklärte, es sei „nicht Sache des Gerichts oder der Strafverfolgungsbehörden (…), den urkundlichen Nachweis der jüdischen Abstammung zu erbringen“ (…), „bei einem aus Russland oder Ostgalizien eingewanderten Menschen, der in jeder Beziehung wie ein Jude aussieht und sich wie ein Jude benimmt.“ [5]  Auch der Name Jonnys (Isidor) und der seiner Eltern (Alexander und Anastasia) verrate die jüdische Herkunft. Auf den Einwand der Verteidiger in der Revisionsverhandlung am 5.11.1936, dass alle Namen griechischer Herkunft seien und eine jüdische Abstammung nicht nachgewiesen sei, befand das Gericht, es gelte die „freie Beweisführung“ (§ 260 StPO).

Meldekarte (nachträglich mit Bleistift "korrigiert)
Meldekarte (nachträglich mit Bleistift "korrigiert)

Das Kasseler Landgericht befand: „Man muss vielmehr von derartigen Einwanderern verlangen, dass sie selbst den urkundlichen Nachweis erbringen, dass sie arischer Abstammung sind, wenn sie sich zu ihrem Schutz darauf berufen wollen.“ Auf Grund seiner Flucht aus Russland und der politischen Lage in der Sowjetunion war Jonny jedoch überhaupt nicht in der Lage, Dokumente über seine Abstammung vorzulegen. Zudem wurden ihm die Zeit und die Möglichkeit, derartige Nachweise zu erbringen, erst gar nicht gegeben.   

Ohne den gesonderten Nachweis der jüdischen Abstammung erbracht zu haben, verurteilte das Gericht Jonny Isidor Silberge wegen Vergehen gegen das „Blutschutzgesetz“ und wegen schwerer Kuppelei zu 4 Jahren und 6 Monaten Zuchthaus. Begründung: „Bei der Strafzumessung war davon auszugehen, dass das Gesetz für ein Verbrechen gegen das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre sowohl Zuchthaus als auch Gefängnis vorsieht. Der vorliegende Fall ist besonders schwer gelagert, sodass nur eine Zuchthausstrafe in Frage kam.“

Warum wurde ausgerechnet Jonny das Opfer eines solchen völlig ungerechten Verfahrens? Über die im Strafverfahren geäußerten Vorwürfe hinaus wissen wir über Jonny Isidor wenig, und das wenige ist geprägt von der nationalsozialistischen Rassenideologie sowie dem progagandistischen Sprachstil des Gerichts und der Presse. Wir lesen dort von „Abscheu, Grauen und Ekel“, „einem Abgrund von Abscheulichkeiten“ und der „Verworfenheit der Gesinnung.“ Um auch von dem Menschen Jonny Isidor etwas zu erfahren, müssen wir zwischen den Zeilen lesen.

Wir erfahren dann u.a., dass Jonny gelesen hat, weil in seiner Wohnung fünf Bücher beschlagnahmt wurden, die auf der Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“ des Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda standen (Bücher mit Themen zur der Sexualaufklärung (van der Velde: Die vollkommene Ehe und Lindsay: Die Kameradschaftsehe) sowie Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“). Was er ansonsten gelesen hat, ist nicht bekannt. Während seiner Haftzeit bat er um die Erlaubnis, eine Tageszeitung zu abonnieren, fragte nach Romanen (englischen Kriminalromanen, russischen und österreichischen) und verlangte eine Bibel (, was ihm allerdings verwehrt wurde). Auch die begrenzte Möglichkeit zum Briefeschreiben hat er dort ausgeschöpft. Die jeweils einzuholende Erlaubnis dafür wurde allerdings nur selten gewährt, und nicht alle Briefe durften verschickt werden. Einmal erfahren wir, dass er seine Schwester Nadia in Genua bittet, Unterlagen zu seiner Abstammung (in der Ukraine) zu besorgen, mit denen er hofft, eine baldige Entlassung zu erreichen. Außerdem äußert er die Hoffnung, dass sie ihm mit Rat und Tat beiseite stehen kann, wenn er „sich und seiner Anita irgendwo in der Welt eine neue Existenz gründen“ will. Auch an seine Frau, die sich 1936 hat scheiden lassen und die er seither Anita nennt, schreibt er viel. („ (…) erfülle auch meine Bitte: Schreibe mir oft und viel, denn nur durch deine lieben Zeilen kann ich mich aufrichten.“ (4.2.1940)). Jonny bittet mehrmals darum, von dem wenigen Geld aus seiner Gefängnisarbeit jeweils 10 RM an seine Frau verschicken zu dürfen. Auch bittet er um Hilfe bei der Arbeitsvermittlung für seine Frau, weil sie durch ihre Heirat staatenlos geworden sei und daher nicht vermittelt werde.

Jonny Isidor Silberge musste seine Strafe im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden bis zum letzten Tag absitzen. Am 30. April 1941 wurde er der Staatspolizeistelle zwecks Überführung in „Schutzhaft“ übergeben. Er wird am 23. Mai 1941 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert, wo er am 8. August desselben Jahres um 2:30 Uhr verstirbt. Als Todesursache wird akute Herzschwäche in die Akte eingetragen. Weitere Einzelheiten werden nicht genannt.

Die Dokumente zu Jonny Silberge können durch Anklicken vergrößert werden.                            

Jürgen Strube   Juni  2015

[1] weibliche Form zu Masseur (veraltet, Gebrauch heute mit anderer Bedeutung)

[2]Die beschlagnahmten Briefe offenbarten das Liebesverhältnis von Richard Flechtheim und Jonnys Ehefrau Anna und führten zu einem weiteren Strafverfahren. Richard Flechtheim wurde wegen Rassenschande angeklagt und Jonny wegen Kuppelei  (ein Tatbestand, der übrigens nicht nur in der NS-Zeit, sondern noch bis in die 50-er Jahre hinein strafbar war). Er habe das ehebrecherische Verhalten seiner Ehefrau gefördert und unterstützt und sei dafür von Richard Flechtheim finanziell entlohnt worden. An Richard Flechtheims Schicksal wird an anderer Stelle gedacht (jüdischer Friedhof in Brakel, Reihe 8, Grab Nr. 16). Er wurde am 18.8.1939 in Hamburg Fuhlsbüttel ermordet. Das Urteil gegen ihn ist 1953 aufgehoben worden, sein Sohn Alexander hat ein Entschädigungsverfahren eingeleitet.

[3] Rassenschande (auch Blutschande) war im nationalsozialistischen Deutschen Reich ein verbreiteter Propagandabegriff, mit dem sexuelle Beziehungen zwischen Juden– nach der Definition derNS-Rassegesetze– und Staatsangehörigen„deutschen oder artverwandten Blutes“ verunglimpft wurden. (Strafbar seit den „Nürnberger Gesetzen“ von 1935)

[4] Nach dem  „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom 15. September 1935 (RGBl. I S. 1146 galten als Juden: Personen, die von mindestens drei der Rasse nach volljüdischen Großeltern abstammten und solche, die von zwei jüdischen Großelternteilen abstammten und am 15.9.1935 oder später einer jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten oder mit einem Juden verheiratet waren oder sich später mit einem Juden verheirateten.

[5] Wir erinnern uns hier an die anfangs erwähnte Personenbeschreibung Jonny Isidor Silberges. Selbst die nationalsozialistische Presse schien den Widerspruch zu riechen, wenn sie von einem „blonden, aber trotzdem ausgemachten Juden“ (Bildunterschrift im „Stürmer“) spricht.

Quellen:                                                                                                                                                                           Stadtarchiv Kassel :Hausstandsbuch, Adressbuch Kassel und Einwohnermeldekarte (Ausländerkarte)                      Dokumente ITS Bad Arolsen Archivnr. 4694 Dok. Nr.7111861#1                                                                                            Stadtarchiv Kassel INN 1  Nr.11920, INN 1 Nr. 10454, INN 1 Nr. 9256 (Gerichts- und Ermittlungsakten)                               Foto von Jonny Isidor Silberge (INN 1 Nr. 11920 (Kurhessische Landeszeitung 1936 Aufnahme Eberth)



 

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