Familie Adler

Lazar, Josef, Rebekka, Adele Fanny, Edith, Paula, Siegbert, Anni, Jakob

Mittelgasse 43 (früher 53)

Pferdemarkt (r.) Ecke Mittelgasse (l.) - Haus der Adlers links in der Mitte
Pferdemarkt (r.) Ecke Mittelgasse (l.) - Haus der Adlers links in der Mitte

Das Haus Mittelgasse 53 war ab 1913 bewohnt von zahlreichen Angehörigen der Familie Adler aus drei Generationen. Die Großeltern Lazar Adler (Jg. 1866) und seine Frau Sara, geb. Karp (Jg. 1870) stammten aus Lancut in Polen. Sie waren beide als Altwarenhändler tätig. Das Paar hatte sechs Kinder: Sarah, Josef, Abraham, David, Berta und Moshe (Moritz).

 

Sarah (Jg.1892) starb 1915, laut Hausstandsbüchern „im Krieg gefallen“.

Josef (Jg. 1894) emigrierte 1939 nach England, später nach Australien.

Abraham (Jg. 1897) wohnte später mit seiner Frau Rosa in der nahegelegenen Müllergasse 2, emigrierte 1939 mit Rosa und Kindern nach England, Sohn Hermann zog weiter in die USA.

David (Jg. 1901) wurde laut einem Gedenkblatt in Yad Vashem in der Shoa ermordet.

Berta (Jg. 1908) verheiratete Grubner, flüchtete 1933 mit Tochter Susanne über Paris nach Palästina.

Moshe (Jg. ? ) wohnte mit Familie in der nahegelegenen Müllergasse 12, floh mit Familie 1933 nach Brüssel, dann nach Palästina.

Eidesstattliche Erklärung von Edda Neuberg (HHStAW)
Eidesstattliche Erklärung von Edda Neuberg (HHStAW)

Lazars Ehefrau Sara starb im Jahr 1931. Im März 1942 musste Lazar – inzwischen das einzige Familienmitglied in Kassel - in das Israelitische Altersheim in der Mombachstraße 17. Am 7.9. 1942 wurde er nach Theresienstadt deportiert, wo er am 4.12.1942 starb.

 

Josef, geboren am 14.7.1894 in Lancut /Polen, war in der Mittelgasse 53 erstmalig 1913 gemeldet. Er zog 1915 nach Hamburg, leistete Militärdienst (lt. Hausstandsbüchern), wohnte in Heiligenstadt, Łódź und Bad Homburg, bis er sich endgültig in der Mittelgasse 53 niederließ und eine Familie gründete. Sein Frau Rebekka /Regina (Jg.1895) stammte auch aus Lancut. Ihre Eltern waren Selig Teitelbaum und Lea, geb. Goldblatt. Das Paar hatte sechs Kinder: Anni, geb. am 17.1.1921, Jakob, geb. am 31.12.1921, Adele Fanny, geb. am 26.5.1923, Edith, geb. am 25.1.1925 , Paula, geb. am 21.6.1926 und Siegbert, geb. am 28.11. 1927.

 

Josef führte 1933 ein gutgehendes Herrenkonfektionsgeschäft im Graben 64. Dies wird bestätigt von Frau Neuberg, geb. Goldblatt , also einer Verwandten von Rebekka, deren Mutter den Geburtsnamen Goldblatt hatte. Rebekka half ihrem Mann im Geschäft; das konnte sie, denn zuhause hatte sie eine Haushälterin, die sich um die Kinder kümmerte. Infolge des nationalsozialistischen Boykotts jüdischer Geschäfte ging der Umsatzstark zurück, Joself musste Geschäft am 1.11.1938 im Gefolge der Pogrome aufgeben. Am 1.9.1939 meldete er sich nach England ab. Dort war er zunächst interniert. Nach seiner Freilassung wanderte er nach Australien aus und arbeitete dort in verschiedenen Fabriken. Ab Dezember 1946 war als Synagogendiener tätig. Im Juli 1946 fragte er über den „Opferanwalt“ Ormond bei der Stadtverwaltung Kassel nach dem Verbleib seiner Frau Rebekka und erhielt die Antwort: „Wohnort : Mittelgasse 56. Wohlergehen“. Am 27.2.1952 verstarb Josef mit 58 Jahren in Fitzroy/Australien.

 

Der Lebensweg der Kinder von Josef und Rebekka Adler gestaltete sich entsprechend den unsicheren Zeiten äußerst unterschiedlich:

 

Anni, am 17.1.1921 vorehelich geboren, hieß zuerst Teitelbaum, bekam später den Namen Adler. Von 1927 bis 1933 besuchte sie die Bürgerschule 2, von 1933 bis 1935 die jüdische Schule. Dann begann sie eine Lehre im Modesalon Jenny Stern in der Wilhelmstraße. 1936 erfolgte der Abbruch der Lehre , um die Schule der Jugend Alijah in Berlin zu besuchen. Sie konnte 1937 nach Palästina emigrieren, wo sie heiratete. Ihre Ehe mit Herrn Dobrowsky wurde geschieden, 1947 heiratete sie zum zweiten Mal und lebte seit 1956 in Tel Aviv.

 

Jakob, geb. am 31.12.1921 besuchte von Ostern 1928 bis Ostern 1932 die jüdische Volksschule, dann das Realgymnasium II. Als er 1933 die Schule verlassen musste, ging er bis 1936 wieder zur jüdischen Volksschule. Danach studierte er an der Jüdischen Lehranstalt in Frankfurt, um Lehrer zu werden. Infolge des Pogroms vom 9.11.38 wurde die Lehranstalt geschlossen und er kehrte nach Kassel zu seinen Eltern zurück. Im August 1938 emigrierte er nach England. Im Juni 1946 sandte er eine Suchanfrage nach seiner Mutter an das Rote Kreuz. Seine damalige Adresse war ein Agrarhotel in Buckingham. Später wanderte er in die USA aus (Michigan).

 

Das Ghetto in Riga

Rebekka und die anderen Kinder

 

Im Jahr 1941 waren fast alle aus der Familie Adler geflüchtet. Nur Lazar und Rebekka mit ihren Kindern Adele Fanny, Edith, Paula und Siegbert bewohnten noch die Mittelgasse 53. Warum ist Rebekka geblieben? Wollte sie sich um den mittlerweile 75-jährigen Schwiegervater kümmern? Ihr Ehemann Josef und Sohn Jakob waren nach England, Tochter Anni nach Palästina geflohen. So kam es am 9.12.1941 zur Katastrophe: Sie wurden in das Ghetto Riga deportiert. Die Augenzeugin Irma Golnik schreibt : „wir sind am 8.12. von der Polizei geholt worden, mussten in der Schule in der Schillerstraße über Nacht bleiben und kamen am 9.12.1941 auf Transport nach Riga. Ungefähr am 12.12. sind wir in Riga angekommen.“ Alle Adlers wurden später in das KZ Stutthof gebracht.

 

Der jüngste Sohn Siegbert (bei der Deportation nach Riga 13 Jahre alt) wurde von Riga in das Ghetto Kowno (Kaunas) verschleppt, im Juli 1944 in das KZ Stutthof und am 10. Sept. 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Nach einer Anfrage des Anwaltes Ormond an die Kasseler Stadtverwaltung nach dem Verbleib des Siegbert wurde er „gemäß Beschluss des Amtsgerichtes Kassel am 11.1.1961 für tot erklärt. Todestag 31.12.1945“. (formelles Datum).

 

Die 1923 geborene Adele Fanny hatte zunächst als Haushaltsgehilfin gearbeitet, bis sie als 16-jährige am 6.11.1939 im Landwerk Neuendorf/Brandenburg aufgenommen wurde. Von 1932 bis 1941 war dies eine jüdische Ausbildungsstätte zur Vorbereitung der Auswanderung nach Palästina, ein sogenanntes Hachschara-Lager. Die Nazis duldeten die Lager, sofern sie der Auswanderung dienten. In 1941 wurden die Ausbildungsstätten geschlossen, die Auswanderung verboten. Also kehrte Adele am 10.7.1941 nach Kassel zurück und wurde am 9.12.1941 nach Riga deportiert. Am 4.8.1944 erfolgte ihre „Einlieferung“ in das KZ Stutthof durch die Sicherheitspolizei Kauen (Kaunas/Kowno), wo sie ermordet wurde. Was mit ihr zwischen der Ankunft am 12.12. 1941 in Riga und der Deportation nach Stutthof geschah, war nicht aufzuklären.

Das Ghetto Kaunas (United States Holocaust Memorial Museum) - Das KZ Riga Kaiserwald nach der Befreiung

Das vierte Kind der Adlers, Edith, wurde ebenso nach Riga deportiert. Erstaunlicherweise heiratete sie noch im Dezember 1941 und hieß nun Edith Klein (nach Angabe von Arolsen Archives). Im Dezember 1942 wurde sie verlegt ins KZ Riga-Kaiserwald, später nach Stutthof-Sophienwald. Im Januar 1944 wurde sie nach Lauenburg verbracht, einer Außenstelle des KZ Stutthof, 35 km östlich von Danzig. Im März 1945 nahm die Rote Armee die Stadt Lauenburg kampflos ein und befreite die Gefangenen. Über das DP-Camp Berlin gelangte Edith in das DP-Camp München-Funkkaserne. Am 31.1.1947 reiste sie über Paris nach Australien; sie wurde am 16.12.1949 in Melbourne gemeldet.

 

Wie Adele wurde auch die bei ihrer Deportation 15-jährige Paula am 4.8. 1944 vom KZ Stutthof als Häftling erstmalig registriert, „eingeliefert“ von der Sicherheitspolizei Kauen (Kaunas/Kowno) Was zwischen der Ankunft in Riga und diesem Tag geschah, wissen wir auch in ihrem Fall nicht. Gemeinsam mit ihrer Mutter konnte sie die Befreiung durch die Rote Armee erleben.

 

Rebekka Adler war mit der Auflösung des Ghettos 1943 wie die anderen bis dahin Überlebenden im KZ Riga- Kaiserwald, das zahlreiche Außenlager hatte. Rebekka kam in das Außenlager Krottingen (lit. Kretinga), das einzige, das auf dem Gebiet Litauens lag, und wurde von dort nach Stutthof deportiert.

Häfltingskarten von Adele und Paula Adler (arolsen archives) - KZ Stutthof (United States Holocaust Memorial Museum)

 

Mit dem Vorrücken der Roten Armee wurde das KZ von der deutschen Besatzungsmacht geräumt. Sie schickte die Häftlinge in mehreren Wellen auf „Evakuierungsmärsche“, die für die meisten zu Todesmärschen wurden. Irma Golnik erinnerte sich 1957: „Die Häftlinge aus dem KZ Stutthof wurden von Januar 1945 ab in Marsch gesetzt. Auf diesem Marsch habe ich auch Frau Adler gesehen, ebenso ihre Tochter Paula. Frau Adler ist mit ihrer Tochter auf diesem Evakuierungsmarsch zurückgeblieben, da sie nicht mehr laufen konnte. Ich selbst bin am 12. März 1945 von den Russen in Butzig, das ist in der Nähe von der Halbinsel Hela, befreit worden. Wie mir Frau Adler später bei einem Zusammentreffen erzählt hat, ist sie durch ihr Zurückbleiben zwei Tage früher von den Russen befreit worden.“

 

Nach ihrer Befreiung konnte Rebekka Adler mit ihrer Tochter Paula nach Kassel zurückkehren. Ihre Namen finden sich auf einer Transportliste von Überlebenden, die kurzzeitig in Thüringen in einem Hotel untergebracht waren. In einer Liste des Polizeireviers Kassel wird bestätigt, dass sich Regina, Edith und Paula bis 15.9. 1945 in Kassel aufgehalten haben. Die Israelitische Kultusgemeinde Kassel hat Regina, Edith und Paula am 31.3.1948 als „ausgewandert “ registriert. Wann und wie Rebekka und Paula nach Australien ausgewandert sind, ist nicht bekannt. Paula war später verheiratete Koznan und wohnte mit Schwester Edith, die im Dez. 1949 in Melbourne gemeldet war, 1959 in der Stadt Moorabin/ Victoria. Mutter Rebekka war 1957 in Melbourne gestorben.

 

 

Margrit Stiefel , Mai 2023

 

 

Quellen und Literatur

 

Arolsen Archives: Dokumente zur Familie Adler

Stadtarchiv Kassel: Hausstandsbuch Mittelgasse 53, Arbeitsbuch Frömsdorf

Stadtverwaltung Kassel: Geburtsurkunden der Adler-Kinder

HHStAW: Entschädigungs-und Wiedergutmachungsakten 518 22019, 518 7375, 518 5924, 518 6731, 518 61427, 61429

Kleinert/Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945

Yad Vashem:. Gedenkblatt für David Adler von Bruder Moshe

Foto Mittelgasse/ Pferdemarkt aus „Kassel vor dem Feuersturm“, Hrsg. Dr. Rudolf Helm

 

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