Johanna Schleenstein geb. Götte

Murhardstraße 1

Johanna Schleenstein gehörte zu den Christinnen jüdischer Herkunft, deren Schicksal die Kirchen jahrzehntelang beschwiegen. Auch das Kasseler Gedenkbuch für die Juden führt sie derzeit nicht auf. Ihr Leben endete gewaltsam in Auschwitz.

Die Biografie ihrer Mutter damit auch ihre eigene sind bislang nicht vollständig aufzuklären. Johannas Mutter Franziska Gans stammte aus Obermarsberg im Sauerland und wurde dort am 21. Januar 1877 als Tochter ders jüdischen Metzgers Salomon Gans und seiner gleichfalls jüdischen Ehefrau Rida geb. Katz geboren. Mehr ist über die Familie auch in der Spezialliteratur über Juden in Obermarsberg nicht zu erfahren. Am 28. Januar 1900 bekam Franziska Gans im Alter von 24 Jahren als unverehelichte Verkäuferin, wie es in der Geburtsurkunde heißt, in der Elisenstraße 71 in Leipzig die Tochter Johanna. Das Haus in der Elisenstraße war ein vierstöckiges Wohnhaus mit mindestens 8 Privathaushalten. Im Adressbuch ist Franziska Gans nicht verzeichnet. Warum und unter welchen Umständen kam Johanna Gans hier zur Welt?

Ihre ledige Mutter musste wohl keinen anderen Ausweg gewusst haben, als ihr kleines Kind in eine andere Obhut zu geben, und brachte es in ein Waisenhaus in Kassel. Warum gerade hierhin, und in welches Waisenhaus? Auch dies bleibt offen. Etwa im Alter von 1 ½ Jahren fand die kleine Johanna ein neues Zuhause in einer Familie, als das kinderlose Ehepaar August Götte und Hermine geb. Thiemke sie aufnahmen. Sie wurde christlich erzogen, wahrscheinlich auch getauft. Ihre Pflegeltern ermöglichten ihr den Besuch der Handelsschule und die Ausbildung zur Sekretärin, bevor sie in einem Bürowarengeschäft arbeitete.

Johanna als Kleinkind (links), mit ihren Eltern August und Hermine Götte (Mitte) und als junge Frau (Foto: Tellgmann)

 

Sie war sportlich, spielte Tennis und schloss sich der Wandergruppe des Hessisch Waldeckischen Gebirgsvereins an. Spätestens 1919 lernte sie hier Hermann Schleenstein kennen und lieben.

 

Johanna beim Wandern (1919), Wandergruppe mit Johanna Götte und Hermann Schleenstein (1919), Johanna am Strand (Datum unbekannt, wahrscheinlich in den 1920er Jahren)

Waandergruppe mit Johanna und Hermann Schleenstein (4. und 5. von links) 1919

Am 8. April 1922 adoptierten August und Hermine Götte gemeinschaftlich Johanna Gans, die fortan den Namen ihrer Eltern trug und 1923 Hermann Schleenstein heiratete. Ob diesem die jüdische Herkunft seiner Braut bekannt war, muss offen bleiben. Er selbst hat dies später wohl bestritten.

 

Die Familie Schleenstein betrieb in Kassel ein Geschäft für den gehobenen Bedarf, das bereits seit 1894 bestand – damals mit der Bezeichnung „Glas-, Porzellan- und Luxuswarenhandlung“. Johannas Schwiegervater Hermann war bis zu seinem Tod 1927 Inhaber des Geschäftes, danach ihre Schwiegermutter, ihr Ehemann Hermann Schleenstein Junior war als Prokurist in der Firma tätig. Johanna brachte ihre beruflichen Kenntnisse gleichfalls in das Geschäft ein, das sich zuletzt in der Oberen Königsstraße 34 befand, im gleichen Haus mit den „Ufa-Lichtspielen“. Der Lebensstandard der Familie Schleenstein dürfte wohl ähnlich gehoben gewesen sein wie das Sortiment, das sie vertrieb. Überliefert ist zum Beispiel ein Foto mit dem Auto der Familie.

Johanna und Hermann Schleenstein bekamen 1924 den Sohn Karl, 1933 die Tochter Ursula. Seit März 1934 lebte die Familie in der Murhardstraße 1. Beide Kinder wurden evangelisch getauft – Ursula zuhause – und christlich erzogen. Bei Ursulas Geburt bestand das ursprüngliche Geschäft bereits nicht mehr. Es hatte die Weltwirtschaftskrise nicht überlebt und war (wahrscheinlich 1931) in Konkurs gegangen, woraufhin Hermann Schleenstein eine neue Firma in der gleichen Branche gründete, die sich in den folgenden Jahren an verschiedenen Standorten befand, ehe sie Hermann Schleenstein 1935 „auflösen musste, da dieselbe unrentabel war“, wie er 1957 schrieb.

Ursels Taufe - Die Familie in den 1930er Jahren

Inwieweit der 1933 entfesselte Antisemitismus, insbesondere auch die „Nürnberger Gesetze“, die Ehe und das Familienleben der Schleensteins in den ersten Jahren der NS-Herrschaft bedrückten, ist kaum zu erhellen. Am 25. November 1938 wurde die Ehe geschieden – aus „rassischen Gründen“, wie die Tochter Ursel nach dem Krieg schrieb. Ihr Vater hatte offenbar eine Nähe zum Jungdeutschen Orden und insbesondere seinem Gründer, dem Kasseler Artur Mahraun, die antisemitisch waren.

Johanna allein mit ihren Kindern
Johanna allein mit ihren Kindern

Bis zur Scheidung war die Familie offenbar weitgehend unbehelligt geblieben. Über die Zeit danach schreibt Ursel Kühn 1954: „Nach der Scheidung begann für meine Mutter der Kampf. Sie hatte, um für uns Kinder sorgen zu können, eine Stelle in der Firma Henschel & Sohn angenommen, doch wurde ihr diese fristlos gekündigt, weil sie jüdischer Abstammung war. So stand sie wieder vor dem Nichts. Die befreundete Familie Karl Winter war Gegner des Nazi-Regimes und hatte sich schon immer unser angenommen. Nachdem meine Mutter nun nichts mehr hatte, nahm uns Familie Winter ganz zu sich und versorgte uns. Meinen Bruder Karl, der in keiner Höheren Schule aufgenommen wurde, brachte Herr Winter in ein christliches Internat am Bodensee, die Ziegler’schen Anstalten. Ich selbst war noch klein und blieb in der Obhut Frau Winters, die meiner Mutter eine gute Freundin geworden war. Lebensmittel und Kleidung teilte diese mit uns. Während dieser Zeit mussten sich Winters immer wieder Verhören durch die Gestapo und die Polizei aussetzen und die Wohnung durchsuchen lassen. Meine Mutter konnte einer Verhaftung nur durch Verstecken und den unerschrockenen Auftritt Frau Winters den Männern gegenüber entziehen. Nachts nur konnte sie noch in Frau Winters Begleitung spazieren gehen, denn mit einemal wussten alle Nachbarn, dass meine Mutter eine Jüdin war, so dass es auch Winters schwer wurde, uns zu schützen.“

Johanna auf Reisen mit der Organisation Todt
Johanna auf Reisen mit der Organisation Todt

Offenbar erzwang der Hauseigentümer, dass Mutter und Tochter das Haus in der Murhardstraße verlassen mussten. Sie fanden Anfang 1942 vorübergehend eine Bleibe in der Karthäuser Straße 5. Dann ging Johanna Schleenstein, die 1941 eine Arbeit bei Wintershall bekommen hatte, zu dessen Büro „Ölinteressen“ in Berlin und wohnte dort in der Rossstraße 15 in Untermiete. Karl Winter brachte Ursel in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale unter, wo ihr Bruder seinen Schulabschluss machte, bevor er zur Wehrmacht eingezogen wurde. Er fiel 1943 an der Ostfront.

 

Rätselhaft bleibt, dass seine Mutter Johanna nach ihrer Tätigkeit für das Büro „Ölinteressen“ in Berlin eine Anstellung bei der Organisation Todt (OT) finden konnte, einer paramilitärisch organisierten Bautruppe im NS-Staat, die in dieser Zeit Albert Speer unterstand. Sie trug auch niemals den seit September 1941 vorgeschriebenen Judenstern. War ihre jüdische Herkunft in Berlin nicht bekannt? Im Auftrag der OT reiste sie mit einer Arbeitsgruppe an verschiedene Orte in Deutschland, Österreich und der Tschechei, so nach Rothenburg ob der Tauber, Eger, Villach, Stuttgart, München, Karlsruhe und Nürnberg. Der Erinnerung ihrer Tochter Ursel, die von den Reisen Briefe und Karten sowie Fotos erhielt, ging es darum, Adressen zusammen zu suchen und zu finden.

Die letzte Nachricht von Ihrer Mutter stammt vom 24. Januar 1944:

„Villach, den 24.1.1944

Mein liebes Hasilein!

Nun naht auch dein Geburtstag und ich will Dir heute schon schreiben, damit Du auch an Deinem Geburtstag im Besitz meiner Wünsche bist.

Alles alles Gute, mein Schätzchen, für dein neues Lebensjahr. Bleibe gesund und fröhlich und werde ein tapferes und brauchbares Menschenkind. Wie möchte ich Dich jetzt mal drücken, abküssen, aber ich bin ja so weit fort. Schreibe mir doch mal einen langen Brief nach Karlsruhe, bahnpostlagernd.

Da bin ich vom 5.-8. Febr. An den anderen Orten bleibe ich nicht lange. Beiliegend 20.- für Dein Sparbuch.

Herzlich Grüße von Deiner Dich liebenden Mutti“!

Verlebe Deinen Geburtstag schön!“

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Danach riss der Kontakt zwischen Mutter und Tochter ab, zu dem auch Besuche gehörten hatten, was für Ursel sehr schmerzhaft war. Erst viel später erfuhr sie die traurige Wahrheit: Johanna Schleenstein wurde am 5. Februar verhaftet, später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.

Im Bürokratendeutsch des Jahres 1956 liest sich das so: „(Es) ist erwiesen, dass die Mutter der Anst.- Frau Johanna Schleenstein am 9.10.1944 während ihrer Freiheitsentziehung in Auschwitz verstorben ist. Es wird daher gem. § 15 Abs. 2 des BEG vermutet, dass sie durch ns. Gewaltmaßnahmen vorsätzlich oder leichtfertig getötet worden ist.“

 

Auch nach Kriegsende erfuhr Ursel Schleenstein die Hilfe ihrer Großeltern Götte und des Ehepaars Winter. Gleichwohl konnte sie nie – angesichts der widrigen Umstände nach dem Krieg – nicht den von ihr angestrebten Schulabschluss erreichen. Dafür erhielt sie im Entschädigungsverfahren 5.000 DM. Für den Mord an ihrer Mutter nichts. Ich bin ihr dankbar für mehrere offene Gespräche, bei denen immer wieder der Schmerz deutlich wurde, der ihr von einem Unrechtsstaat zugefügt wurde.

 

Wolfgang Matthäus

Juni 2023

 

Quellen und Literatur

 

HHStAW

518 89649 (Entschädigungsakte Johanna Schleenstein)

StadtA Kassel

Hausstandsbücher | Meldekarten

Adressbücher Kassel

Archiv der HNA Kassel

Gedenkbuch des Bundesarchivs „Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“

Leipziger Adressbücher 1900 und 1901 (https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/84177/66)

 

Auskünfte, Dokumente und Fotos von  Ursel Kühn geb. Schleenstein

 

Heinz Daume / Hermann Düringer / Monica Kingreen / Hartmut Schmidt (Hg.), Getauft, ausgestoßen – und vergessen? Zum Umgang der evangelischen Kirchen in Hessen mit den Christen jüdischer Herkunft im Nationalsozialismus, Hanau 2013

Ortsartikel Marsberg-Obermarsberg, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg, hg. von Frank Göttmann, Münster 2016 (als E-Book Münster 2021)

 

https://de.wikipedia.org/wiki/Jungdeutscher_Orden

https://de.wikipedia.org/wiki/Artur_Mahraun

https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/organisation-todt.html

 

Die Ziele des Vereins

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