Olga, Max und Lieselotte Speier- Ida Wertheim

Kurt-Schumacher-Straße 9 (ehemals dort die Moltkestraße)

Lieselotte Speier wurde am 19. Sept. 1924 in Hoof geboren. Ihre Eltern und Großeltern stammen aus bekannten jüdischen Familien in Hoof und Ungedanken bei Fritzlar. Lieselotte war 13 Jahre alt, als sie im Dezember 1937 für einige Wochen in die Kasseler Hohentorstraße kam, wahrscheinlich, um die Israelitische Schule zu besuchen. Die jüdische Schule in Hoof war 1933/34 nach dem Tod des letzten Lehrers geschlossen worden und jüdische Kinder besuchten dann die Volksschule des Dorfes. Von einigen von ihnen wissen wir, dass sie die Diskriminierung dort nicht aushielten und deshalb ihren Schulbesuch in der Schule der israeltischen Gemeinde in Kassel fortsetzten. Das dürfte auch für Lieselotte gegolten haben.

Ab dem 23. Juli 1938 wohnte sie dann mit ihrer Familie in der Moltkestraße, einer Parallelstraße der Hohentorstraße, zunächst in der Nr. 8 und ab 3. Mai 1941 laut Hausstandsbuch in der Nr. 10 vor der Zwangseinquartierung in die Fliegengasse 9.

Die Moltkestraße aus Richtung untere Königsstraße zur Mauerstraße um 1905 (StadtA Kassel).

Ausschnitt aus dem Stadtplan 1943. Ungefähr an der Rückseite der Häuser in der Moltlkestraße  verläuft heute die in der Nachkriegszeit angelegte Kurt-Schuhmacher-Straße (Karte: Amt für Vermessung und Geoinformation):

Von Lieselotte ist nur noch bekannt, dass sie am 1. Juni 1942 mit dem Transport nach Lublin/Majdanek und Sobibor gemeinsam mit ihrem Vater Max deportiert wurde. Sie war noch keine 18 Jahre alt, als sie am 3. Juni 1942 in Sobibor ermordet wurde.

Ihr Vater, Max Speier, geb. am 23. Juni 1897, stammt aus einer bekannten Hoofer Familie. Seine Eltern, der Handelsmann Julius und Jettchen Speier, geb. Rosenbach wohnten mit Sohn Simon Speier, geb. 1888, Schwiegertochter Selma und Enkelin Brunhilde (geb. 1920) in der Hoofer Fuckelgasse, jetzt Herkulesstraße. Max Speier wurde mit 18 Jahren Soldat und nahm von 1915 bis 1918 wie viele aus dem Dorf am 1. Weltkrieg teil. Später war er als Vertreter tätig. Mit 26 Jahren heiratete er.

 

Hoof

 

Früher zum adligen Gericht Schauenburg gehörig, ist Hoof mit etwa 3.000 Einwohnern seit 1972 eines der fünf Dörfer der Gemeinde Schauenburg. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus 1250 n. Ch. Im späten 16. Jh. ließen sich sogenannte Schutzjuden unter der Ortsherrschaft der Familie von Dalwigk nieder. Sie trieben Kleinhandel und etwas Landwirtschaft. Platz für den gemeinsamen Friedhof – den ältesten jüdischen in Hessen - überließ ihnen die Herrscherfamilie im nahen Breitenbach. Die jüdische Gemeinde entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur größten Gemeinde im Landkreis Kassel mit bis zu 230 Mitgliedern. 1840 wurden eine Synagoge, eine Mikwe und ein Schulraum mit Lehrerwohnung eingerichtet. Die jüdische Elementarschule, deren Lehrer in Kassel ausgebildet wurden, bestand seit 1827, um 1890 mit bis zu 60 Schülern. Nach dem Tod des letzten Lehrers wurde sie 1934 geschlossen. Das Zusammenleben mit der christlichen Bevölkerungsmehrheit war weitgehend unproblematisch. Jüdische Bürger waren im Gemeinderat, den Vereinen, der Feuerwehr, selbst in dem stramm nationalen Kyffhäuser Bund usw. Die Gaststätte des Juden Meinhard Gumpert war Treffpunkt für alle.

Ab 1933 machten die Juden Hoofs zwiespältige Erfahrungen. Auf der einen Seite gab es offenkundig Nichtjuden, die an der im Dorf gelebten Integration der jüdischen Bevölkerung in das Vereins- und auch Gemeindeleben keine Abstriche machten, was die Aufmerksamkeit des antisemitischen Hetzblattes der Nationalsozialisten „Der Stürmer“ im Jahr 1934 erregte, in dem ein Hetzartikel über das Dorfleben in Hoof erschien.

 Auf der anderen Seite standen Erfahrungen von Diskriminierung, vor allem auch bei Kindern, Aufforderungen zum Boykott, 1935 sogar von gewalttätigen Ausschreitungen. Bis 1935 emigrierten deshalb bereits einige Familien ins Ausland, andere verließen danach den Heimatort oder konnten vor allem 1938 ihre Kinder mit Hilfe der Kindertransporte ins sichere Ausland bringen. Am 8. November 1938 wüteten aus anderen Dörfern angereiste SA-Leute in Hoof, fanden dort aber auch Mittäter aus dem Ort. Nach dem Pogrom hatten die Hoofer Juden innerhalb kurzer Zeit die Gemeinde zu verlassen, Hauseigentümer unter ihnen ihr Eigentum zu verkaufen. Eine Erfassungsstelle in Kassel wies sie in Häuser im Bereich zwischen Altmarkt und Grünem Weg ein.

 

Max Speier war mit Frau und Tochter sowie den Schwiegereltern Wertheim noch vor dem Pogrom im Sommer 1938 nach Kassel gezogen. Am 10. November 1938 wurde er zusammen mit etwa 250 jüdischen Männern in Kassel verhaftet und anschließend in einem Sonderlager innerhalb des KZ Buchenwald  bis zum 16.12.1938 unter Bedingungen inhaftiert, die noch schrecklicher waren, als es in Buchenwald ohnehin der Fall war.

Laut Hausstandsbuch war die Familie zwar in der Moltkestraße registriert, tatsächlich war Max Speier dann aber wie seine Frau und seine verwitwete Schwiegermutter ab dem 11. April 1941 im „Arbeitserziehungslager Breitenau“. Statt eines Fotos fanden wir im Gestapo-Aufnahmebuch Nr. 412 des „Arbeitserziehungslagers Breitenau“ diese Personalbeschreibung des Schutzhäftlings: 1,73 m groß, dunkle Haare und Augenbrauen, Stutzbart, Kinn normal, Gesicht voll, Farbe braun, 6 Goldzähne, Statur kräftig, keine besonderen Merkmale.“ Und im Hinterlegeblatt heißt es: „je 1 Mütze, Mantel, Weste, je 2 Hemden, Unterhosen, Handtücher, 1 Uhr mit Kette“. Zurück in der Moltkestr. 10, wurde er am 1. Juni 1942 – also vor 80 Jahren - nach Majdanek deportiert und am 29. Juli 1942 dort ermordet. Max Speier wurde 45 Jahre alt.

 

Olga (genannt Ottilie) Speier, geb. Wertheim, wurde am 12. Jan. 1900 ebenfalls in Hoof geboren. Am 27. Okt. 1923 heiratete sie Max Speier, sie wohnten in der Schulstraße. Sie war 24 und er 27, als sie ein Jahr später Eltern von Lieselotte wurden. Über Olga Speier selbst, genannt Ottilie, konnten wir nur wenig erfahren. Selbst in Breitenau gab es keine Personalbeschreibung oder andere Angaben über ihre 5 ½ Monate im „Arbeitserziehungslager“ vom 11. April bis 26. September 1941. Offenbar dann auch in die Moltkestraße entlassen, wurde sie 4 Monate später am 30. Januar 1942 nach Ravensbrück deportiert und nach 3 Monaten dort am 30. April 1942 ermordet. Olga Speier wurde 42 Jahre alt. Auf dem Jüdischen Friedhof in Kassel-Bettenhausen gibt es jedoch ein Grab für sie. - Nr. 28.

Die Großeltern mütterlicherseits von Lieselotte sind die Eheleute Harry Heinrich Wertheim und Ida, geb. Lissauer. Der Großvater wurde am 28. Aug. 1858 in Hoof geboren. Er war sehr aktiv in der Gemeinde und ab 1903 viele Jahre Vorsteher und Schatzmeister der größten jüdischen Landgemeinde in Nordhessen mit mehreren Vereinen. Auch den 1852 gegründeten Verein „Chewra Gemilus Chessed Humanitas“ (Wohltätigkeit und Bestattungswesen) leitete er von 1924 bis 1932. 80jährig zog Harry Wertheim mit seiner Frau Ida im Juli 1938 mit Familie Speier nach Kassel in die Moltkestr. Am 1. Oktober 1940 starb er dort.

 

Großmutter Ida Wertheim, geb. Lissauer, geb. am 17. Januar 1868, stammt aus der ebenfalls bekannten jüdischen Familie Lissauer in Ungedanken an der Eder bei Fritzlar. Ihre Eltern waren Salomon und Amalie Lissauer, geb. Löb. Sie hatte drei Brüder in Berlin, Düsseldorf und Argentinien. Bereits 1786 waren sie nach Ungedanken gekommen.

 

Ungedanken

 

Der kleine Ort Ungedanken (ca. 300 Einwohner) bei Fritzlar an der Eder war ab 14. Jahrhundert nur ein kurmainzer Hof. Die jüdische Gemeinde entwickelte sich dort ab dem 17./18. Jahrhundert durch jüdische Flüchtlinge aus Polen unter dem Schutz der Mainzer Kurfürsten. Sie gehörte zum Rabbinatsbezirk Niederhessen mit Sitz in Kassel. 1803 kaufte ein Moses Lissauer ein Fachwerkhaus. Es diente als Bethaus, bis 1864 für 6.000 Taler eine neue Synagoge mit Mikwe und Schule (zunächst 50 Schüler, 1906 noch 6) gebaut und ein Friedhof angelegt wurde. Die Lehrer waren zugleich Vorbeter und Schochet; sie nahmen auch an den Kriegen teil. Die jüdische Einwohnerentwicklung sah dann so aus: 1924: 12, 1933: 10 und 1937 noch 4 Personen. Die Familie Lissauer aus Lissa, Provinz Posen, stellte dort schon ab 1654 die Torarollenschreiber, vererbt vom Vater auf den Sohn. Anfang 1786 kamen sie nach Ungedanken und führten diese Familientradition fort. Der letzte Schreiber war Salomon Lissauer, Vater von Ida Wertheim und Urgroßvater von Lieselotte Speier war. Verwitwet lebte er zuletzt bei der Familie seiner Tochter in Hoof und wurde nach seinem Tod 1912 in Ungedanken bestattet.

 

Die Eheleute Wertheim hatten zwei Söhne in Frankreich und Berlin sowie zwei Töchter in Kassel (Olga) und Berlin.

Auch Ida Wertheim war ab 11. April 1941 3 ½ Monate in der „Landesarbeitsanstalt Breitenau“ interniert. In der Personalbeschreibung heißt es: „1,53 m groß, Haare, Augenbrauen und Augen grau, Stirn mittel, Nase spitz, Mund schmal, Zähne falsch, Gesicht oval, Kinn rundlich, Farbe blass, Statur mittel“. Und im Hinterlegungsblatt für den Schutzhäftling heißt es: „ohne Kleiderbeutel, je 1 schwarzer Mantel, Kleid, Hut, Handtasche; je 1 alter Unterrock, Untertaille, weißes Hemd, Hose, Handschuhe, Taschentuch, 2 Paar schwarze Strümpfe, 1 schwarzer Beutel mit Strickzeug.“ Am 23. Juli 1941 entlassen, lebte sie ab 26. Juni 1942 im Jüdischen Altersheim Große Rosenstraße. Sie wurde am 7. September 1942 nach Theresienstadt deportiert und am 29. September 1942 in Treblinka ermordet, 74 Jahre alt.

Polizeiliche Liste der am 19.11.1938 Verhafteten - "Geldkarte" von Max Speier aus Buchenwald (Arolsen Archives)

 

Gudrun Schmidt, Juni 2022

 

Quellen und Literatur

 

Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933 – 1945, bearbeitet von B. Kleinert und W. Prinz, Kassel 1986, Hrsg. Magistrat der Stadt Kassel

Standesämter Schauenburg-Hoof und Kassel: Personenstandsunterlagen

Stadtarchiv Kassel:

Adress- und Hausstandsbücher A 3.32 287, 288 und 123, 467, 532, sowie Bildmaterial 0.002.331, 0.005.310

Liste D des Israelitischen Friedhofs KS-Bettenhausen vom 5. Juli 1948

Hessisches Haupt- und Staatsarchiv Wiesbaden:

Wi/Ka/A 25620

Broschüre Gedenkstätte Breitenau, sowie Gestapo-Akten „Aufnahmebuch 960“

 

zu Hoof:

Abendroth, Christian: Von Hoof in die Welt. Auf den Spuren jüdischer Mitbürger nach Flucht und Vertreibung, in: Das achte Licht, Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in Nordhessen, hg. von Helmut Burmeister und Michael Dorhs, Hofgeismar 2002, S. 263ff.

ders.: Zur Geschichte der Gemeinde Hoof – Breitenbach – Elmshagen, in: Juden – Hessen – Deutsche, Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Juden in Nordhessen, hg. von Helmut Burmeister und Michael Dorhs, Hofgeismar 1991, S. 111ff.

Nachhall. Erinnerung an die Zeit, als noch Juden in Schauenburg wohnten, Schauenburger Geschichtsblätter Heft 5 (Oktober 2006), hg. von der Geschichtswerkstatt Schauenburg e. V.

Ölzweig und Eichbaum. Von der Verwurzelung der Schauenburger Juden. Eine Dokumentation des Geschichtsvereins Schauenburg e. V., Schauenburg 2008

Steinweis, Alan E.: Kristallnacht 1938. Ein deutscher Pogrom, Stuttgart 2011

 

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