Ruth und Adolf Oesterreicher, Sofie und Louis Cheim, Henriette Horn

Philippistraße 22

Adolf Oesterreicher:

Adolf Oesterreicher ist am 18. Juni 1913 in Kassel geboren. Seine Eltern waren Leopold Oesterreicher und Bertha Pfaff, eine „Mischehe“. Ein Umstand, der später mit den Nürnberger Gesetzen Bedeutung erlangen sollte. Denn die Kinder aus solchen Ehen wurden nach rassistischen Kriterien Mischlinge.

Adolf hatte 5 Geschwister: Dina – JG 1906, Albert – JG 1907, Friedrich – JG 1908, Erna – JG1911, Leopold – JG 1918.

Der Großvater von Adolf, Hermann Oesterreicher stammte aus Böhmen und tauchte erstmals 1874 als Kutscher in Kassel auf. Ab 1900 war er in Rothenditmold Müllerweg 22, heute Philippistraße ansässig. Insofern sind alle späteren Abkömmlinge der Familie mit dieser Straße und der hier ansässigen Jutespinnerei eng verbunden. Viele Häuser in der Philippistraße gehörten der Spinnfaser. In ihnen wohnten die Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter.

Adolfs Vater Leopold ist 2015 im Weltkrieg I gefallen. Dadurch sind er und seine Geschwister als Halbwaisen aufgewachsen.

In den Jahren 1919 bis 1927 war Adolf auf der jüdischen Volksschule. Drei Lehrjahre zum Maler und Autolackierer und anschließende Gesellenjahre bis Juli 1935 schlossen sich an. Im September 1935 Heirat mit der Verkäuferin Ruth Baruch aus Osche in Westpreußen. Er war 22, sie 27. Sie nehmen eine Wohnung im Hause Wolfhager Straße 147. In dem Haus wohnte auch sein Cousin Karl Hase, der mit Selma Jakob aus Osche verheiratet war. Da kann man sagen, „So klein ist die Welt“. Zwei Cousins, Arbeiter aus Rothenditmold, heiraten jüdische Frauen aus demselben Dorf.

Für die Hases liegen bereits Steine in der Wolfhager 147.

Adolf und Ruth könnten sich in Grüsen bei Frankenberg kennengelernt haben, für Adolf gibt es eine

Abmeldung dahin bis August 1935 und für Ruth einen entsprechenden Hinweis. Seit April 1934 war in Grüsen ein Vorbereitungslager / landwirtschaftliche Ausbildungsstätte (Hachschara, auch Kibbuz Hag Shamash genannt) für jüdische junge Erwachsene, die sich für die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten. Mit einer landwirtschaftlichen Ausbildung konnte man ein Zertifikat der britischen Regierung bekommen, das zur Auswanderung nach Palästina berechtigte. In Hessen gab es vier Ausbildungsstätten: neben Grüsen noch in Külte bei Volkmarsen, in Gehringshof bei Fulda und Lohnberghütte bei Weilburg. In Grüsen stellte der jüdische Gastwirt Jakob Marx die Räume seiner Gastwirtschaft hierfür zur Verfügung. Die sechs jüdischen Familien vor Ort stellten gleichfalls Übernachtungsräume zur Verfügung und verpachteten ihr Land an die Reichsvertretung der Juden. Bis zu 40 junge Leute im Alter zwischen 18 und 25 Jahren wohnten und arbeiteten in der Folgezeit in Grüsen, jeweils für einige Monate. Die Ausbildungsstätte bestand bis zum Novemberpogrom. Insgesamt waren zwischen 1934 und 1938 mindestens 125 jüdische Personen zur Ausbildung in Grüsen. Zur Auswanderung ist es aber nicht gekommen.

Von 1937 bis 1941 wohnen Adolf und Ruth in der Philippistraße 22. Laut Bescheinigung der Jutespinnerei und Weberei war Adolf bei ihr als Betriebsmaler beschäftigt. Der Stundenlohn betrug 84 Reichspfennig. Mit Leistungs und Schmutzzulagen und den Überstunden ist er auf etwa 60 Reichsmark wöchentlich gekommen. Die Entlassung am 4. August 1938 sei von der NSDAP erzwungen worden. Nach der Entlassung wurde er zur Straßenbaufirma Fehr verpflichtet, sein Wochenlohn: 20 RM.

Am 30. Mai 1938 wird Tochter Ellen geboren. Aber schon einen Tag später ist der Tod des Kindes eingetragen.

Im Oktober 1941 mussten Adolf und Ruth aus ihrer Wohnung Philippistraße in das Haus Packhofstraße 18 (heute Finanzamt Altmarkt) umziehen, das dem jüdischen Möbelhändler Elsbach gehörte. Aus diesem Judenhaus wurden sie über die Sammelstelle Turnhalle an der Schillerstraße zusammen mit über 1000 anderen jüdischen Menschen deportiert. Es ist schon vielfach geschrieben worden, dass die Menschen am hellen Tag in langer Kolonne von der Schillerstraße über Orleanstraße (Erzberger) – Bahnhofstraße (Werner Hilpert) zum Bahnhof getrieben worden sind. Drei Tage ging die Fahrt in ungeheizten 3. Klasse Waggons nach Riga. Nach der Ankunft in Riga waren Salaspils und Kaiserwald weitere Stationen mit mangelhafter Ernährung und schwerer Arbeit. Von 1941 bis 1944 dauerte diese Etappe. Daran schloss sich die Verlegung in das Konzentrationslager Stutthof an. Er ist auf einem Evakuierungsmarsch in Pommern von der Sowjetarmee im März 1945 befreit worden. Das Ehepaar war im letzten Teil ihres Leidensweges getrennt. Nach ihrer Repatriierung haben sie in Gudensberg, Untergasse 4 gewohnt. Ihren Lebensunterhalt haben mit einem kleinen Textilgeschäft bestritten. Im Jahre 1951 gelang die Auswanderung nach USA. Ihr letzter bekannter Wohnort war in Atlantic City. Er ist am 25.10.1979 in Ventnor Heights / NJ an der Atlantikküste gestorben.

Im Antrag auf Wiedergutmachung vom September 1949 nennt er sich Oster. Er schreibt, dass er seine Deportation hätte verhindern können, wenn er sich von seiner Frau Ruth hätte scheiden lassen. Als „Halbjude“ wäre er dann, wie seine Geschwister, davongekommen. Dieses von der Gestapo gemachte Ansinnen hat er abgelehnt.

 

Henriette Horn, geb. Oesterreicher: 

Sie ist am 10. März 1877 als Tochter von Hermann und Mindel Oesterreicher geboren. Dadurch ist sie eine Großtante von Adolf Oesterreicher. Im Hausstandsbuch Philippistraße steht bei ihr in der Spalte Stand oder Gewerbe ‚Invalidin‘. Das hat damit zu tun, dass sie eine alleinerziehende Mutter ihrer Tochter Sofie, *1896, ist. Henriette bleibt bis 1915 im Haushalt ihrer Eltern, viele Jahre in der Philippistraße. In den Jahren 1920 bis 1929 wohnt sie in Rothenditmold, Wolfhager Straße 156. 1924 Heirat mit dem blinden Korbmacher Johannes Horn. Horn ist 1882 in Rockensüß bei Sontra geboren. In den Meldeakten dieser Jahre wird sie als Invalidin geführt. Bis Mitte der 30-er Jahre gibt es eine gemeinsame Wohnung im Westring. In 1939 wird sie in die Judenbaracken in der Zentgrafenstraße eingewiesen.

In den 1920-er Jahren sind in Kirchditmold an der Zentgrafenstraße im Rahmen der Obdachlosenfürsorge Baracken gebaut worden. Die direkt an der Straße stehenden erhielten die Hausnummern 5, 7, 9, 11, 13. In der zweiten Reihe stehende bekamen die Nummern 5 1⁄2 bis 13 1⁄2. In diesen einfach eingerichteten Unterkünfte waren Mindermittelte und Obdachlose untergebracht. Die Baracken 5 1⁄2 und 7 1⁄2 wurden in den Jahren 1938 – 1941 nur für die Unterbringung von Juden genutzt. Die aus dem Umland oder aus ihren angestammtem Kasseler Mietwohnungen exmittierten jüdischen Familie wurden hier auf engstem Raum eingepfercht. Von den in die Baracken eingewiesenen Juden sind 34 deportiert und ermordet worden. Die Baracken waren zwar keine Haftstätte. Die Bewohner konnten zur Arbeit gehen. Dennoch waren sie stigmatisiert.

Henriette Horn ist am 8. Januar 1940 in der Baracke 5 1⁄2 gestorben. Beim Standesamt ist der Sterbefall durch Karl Hase – einem Verwandten in der Nebenlinie – angezeigt worden. Herz- und Kreislaufschwäche, Asthma sind als Ursache vermerkt. Sie war 63 Jahre alt. Henriettes Mann ist 1956 in seinem Geburtsort Rockensüß gestorben. Keine Wiedergutmachungsakte.

Die Verlegung des Stolpersteins in der Philippistraße ist eine symbolische Familienzusammenführung.

 

Sofie Cheim, geb. Oesterreicher und Louis Cheim:

Sofie ist die Tochter von Henriette und am 11. September 1896 von ihrer damals noch minderjährige Mutter geboren worden. Sie ist im Haushalt ihrer Großeltern Hermann und Minna groß geworden. Denn von 1900 bis 1939 ist sie in der Philippi 22 gemeldet. Das Leben in der Arbeiterfamilie wird von Sorgen und Not geprägt sein. Der 1. Weltkrieg und der Tod von Opa Hermann haben dazu beigetragen. In den Meldeakten wird sie als Arbeiterin geführt. Angesichts der Familientradition wird sie in der Jute geschafft haben.

Am 1. April 1939 wird sie in die Baracken Zentgrafenstraße eingewiesen und am 30. August heiratet sie Louis Cheim.

Louis ist am 24. August 1893 in Nakel geboren, damals zu preußischen Provinz Posen gehörig, heute

gehört es zur Woiwodschaft Poznań. Nach Ende des Ersten Weltkrieges setzte eine Massenemigration von Nakeler Juden nach Deutschland ein. In Kassel ist Louis Cheim 1923 aus Berlin kommend erstmals gemeldet. Auf der Meldekarte wird er als Monteur und Händler bezeichnet, im Gedenkbuch Kassel als Gärtner. Er war 2mal verheiratet. In den Jahren1930 bis

1938 war er an 8 verschiedenen Wohnadressen gemeldet, zuletzt in der Mittelgasse 53. Am 8. November 1939 nach der Heirat mit Sofie Oesterreicher wird auch er in die Zentgrafenstraße 7 1⁄2 eingewiesen. Ein halbes Jahr später werden sie im Mai 1940 in das Lager Wartekuppe verlegt. Es sind Baracken in einem ehemaligen Ziegeleigelände in Niederzwehren. Auch die Wartekuppe war keine Haftstätte. Dennoch waren die Bedingungen durch isolierte Lage schlechter. Nach 1 1⁄2 Jahren mussten sie am 9. Dezember 1941 am Hauptbahnhof den Zug ins Getto Riga besteigen und sind nicht wieder gekommen. Sie waren 45 und 48 Jahre alt.

 

Jochen Boczkowski im Mai 2022

Quellen:

Kleinert und Prinz: Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945 – HG Stadt Kassel in 1986 Bundesarchiv: Gedenkbuch Opfer der Verfolgung der Juden

Stadtarchiv Kassel: Meldeakten, Adressbücher Kassel

Hauptstaatsarchiv Wiesbaden: E-Akte Oesterreicher – HHStAW Signatur 518 / 68846

Helmut Thiele: Die jüdischen Einwohner zu Kassel arolsen-archives

 

  

aus Entschädigungsakte Oesterreicher im Staatsarchiv - HHStAW Signatur 518 / 68846

 

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