Clara Mosbacher

Querallee 21

Anders als die meisten Familienmitglieder konnte die hochbetagte Witwe, Mutter und Großmutter Clara Mosbacher dem Völkermord nicht entrinnen.

 

Sie wurde am 4. Februar 1859 als Tochter von Fanny Gotthelft (geb. Rosenstein, 1836-1906) und Adolph Gotthelft (1828-1901) geboren und entstammte damit einer für die Stadt so wichtigen Drucker- und Verlegerfamilie, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Kassel ansässig war. Ihr Vater und dessen Bruder Carl hatten 1841 eine Druckerei gegründet und gaben seit 1853 „Das gewerbliche Tageblatt und Anzeiger“ heraus, aus dem in der preußischen Zeit das „Casseler Tageblatt“ hervorging, eine liberale Zeitung, die Ende 1932 ihr Erscheinen einstellen musste. (Näheres bei Sichel und Gotthelft) Clara wuchs zunächst in der Mittelgasse auf, wo sich lange Zeit auch die Druckerei befand, später am Martinsplatz. Während ihr Bruder Richard (1857-1933) 1873 als Lehrling in das Familienunternehmen eintrat, wurde zur gleichen Zeit seine „Schwester Clärchen nach Verlassen der Schule für den Beruf einer künftigen Hausfrau im Kochen, Nähen, Bügeln usw. ausgebildet“, die Schwester „Paula ging noch zur Schule und wurde als Nesthäkchen (…) weidlich verzogen“, schreibt Claras Bruder Richard in seinen Erinnerungen.

Claras Mosbachers Vater Adolph Gotthelft und sein Bruder Carl, die Gründer des Casseler Tageblatt, und ihr Geburtshaus in der Mittelgasse 31. (Fotos aus dem Buch von Frieda Sichel)

Bernhard Mosbacher
Bernhard Mosbacher

Clara Gotthelft heiratete am 22. Mai 1879 Bernhard Mosbacher, der vermutlich erst einige Jahre zuvor mit seinem Bruder Louis von Marktbreit in Franken nach Kassel gekommen war. Aus einer Weinhändlerfamilie stammend, erscheint Bernhard Mosbacher in den Adressbüchern als Mitgesellschafter von Moritz Katz bei der Wollwäscherei Katz und Söhne am Kupferhammer, bevor er zusammen mit seinem Bruder Louis 1885 die eigene „Mosbacher & Comp., Dampfwollwäscherei und Wollhandlung“ in der „Sandershäuser Land-Straße 106 ¼“ in Bettenhausen gründete. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor: Lotte Mosbacher wurde am 22. Mai 1879 geboren, sie heiratete in erster Ehe Ludwig Hallo, in zweiter Ehe Dr. Walter Breiding. Der am 25. April 1882 geborene Hans heiratete in erster Ehe die Engländerin Dorothy Hirsch, in zweiter Ehe Aenne Rosenberg. Fritz Mosbacher wurde am 1. Oktober 1883 geboren und heirate Aenne Scheyer, die zu einer international beachteten Fotografin wurde.

 

Solange ihre Großeltern Gotthelft lebten, war deren Villa in der Kölnischen Straße 40 (später 42), die sie 1886 erworben hatten, Mittelpunkt des Familienlebens. Über dieses sind wir durch die Erinnerungen von Claras Bruder Richard und auch durch die Erzählungen ihres Enkels Benyamin Maoz gut informiert. In der Villa trafen sich „Kinder und Schwiegerkinder, Enkel und Freunde, auch die Freunde der Kinder und Enkelkinder waren jederzeit willkommen“, heißt es in der „Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher“ von Eva M. Schulz-Jander. Insbesondere die Sonntagabende verbrachte die Familie dort, aber auch die christlichen Feiertage, wie Ostern, Pfingsten und Weihnachten, die sie wie viele andere assimilierte jüdische Familien als „deutsche Feste“ feierte.

 

Dagegen kam Claras Mann aus einem frommen, jüdisch-orthodoxen Haus. In der Familie von Clara und Bernhard spielte daher traditionelles jüdisches Leben eine Rolle. An den hohen Feiertagen ging die Familie in die Synagoge, der Sederabend am Vorabend des Pessach-Festes wurde feierlich im Kreis der Familie begangen. Dabei war Bernhard Mosbacher über seine Geschäftstätigkeit hinaus vielfältig engagiert, nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Stadt, sondern auch darüber hinaus. Unter anderem war er zeitweise Vorsitzender des Israelitischen Literaturvereins, im Vorstand des „Trauer-Beisteuer-Vereins“, einer Begräbniskasse, Gemeindeverordneter in Bettenhausen und Kuratoriumsmitglied der von ihm ins Leben gerufenen Mosbacher’schen Stiftung zugunsten armer Konfirmanden im Stadtteil Bettenhausen. Als einziger Jude war er Mitglied der Kasseler Freimaurerloge, die er verließ, als einem weiteren Juden die Mitgliedschaft verweigert wurde, um 1888 gemeinsam mit anderen den Kasseler Zweig der Sinai-Loge (Unabhängiger Orden Bne Briss) zu gründen. „Bernhard war ein stolzer Jude, der sein Jüdischsein nicht versteckte“, charakterisiert ihn sein Enkel Benyamin Maoz.

Clara Mosbacher würdigte die Jüdisch-liberale Zeitung in einem Artikel vom 8. Februar 1929 anlässlich ihres 70. Geburtstages so: „Als Vorstandsmitglied des Schwesternbundes hat sie viele Jahre die gemeinnützigen Interessen des Vereins mit Eifer vertreten und auch das von der Organisation begründete Mädchenheim tatkräftig gefördert. Künstlerischen Bestrebungen brachte die Greisin stets erhöhtes Interesse entgegen; auch der Musik, die sie früher mit Vorliebe pflegte, gehörte ihre besondere Aufmerksamkeit.“ Der israelitische Schwesternbund verhalf Mädchen zur Erwerbsfähigkeit und bot auswärtigen untern ihnen Unterkunft in einem Heim in der Jordanstraße 51.

Die Familie Mosbacher wohnte zunächst am Ständeplatz, dann in der Orleansstraße. Noch im 19. Jahrhundert erwarb sie das Haus Jordanstraße 11 und wohnte dort, bis Clara Mosbacher nach dem Tod ihres Vaters 1901 und ihrer Mutter 1906 die Villa in der Kölnischen Straße 42 erbte und die Familie dort lebte. Sie nahm rege am Kulturleben der Stadt teil, besuchte Konzerte und die Oper, zu ihrem Bekanntenkreis gehörten der Opernsänger Siegmund Weitlinger und dessen Frau Therese, die gleichfalls in der Oper sang. In der Bibliothek standen die deutschen Klassiker. Die beiden Söhne Fritz und Hans erhielten eine höhere Schulbildung, die Hans mit dem Abitur 1900 an der Oberrealschule abschloss. Seinem Wunsch zu studieren stand entgegen, dass der Plan der Eltern ihn als zukünftigen Geschäftsführer des Unternehmens vorsah. Beide Brüder waren spätestens 1915 neben ihrem Vater und ihrem Onkel Louis Mitgesellschafter von Mosbacher & Co., seit dem 1. Januar 1923 dann gemeinsame, alleinige Geschäftsführer der „Wollwäscherei Mosbacher A.-G. Cassel-Bettenhausen“. Vier Jahre später – 1927 - starb ihr Vater Bernhard. Die Villa in der Kölnischen Straße wurde verkauft, Clara Mosbacher zog wieder in das ihr gehörende Haus Jordanstraße 11, wo sie bis 1938 wohnen sollte. An der Wollhandelsgesellschaft Mosbacher war sie mit 25 Prozent, an der Wollwäscherei mit 2/12 beteiligt, ihren Söhnen soll sie beratend zur Seite gestanden haben. Auf einem Foto anlässlich des 50-jährigen Firmenjubiläums 1935 ist sie mitten unter Familienmitgliedern und Angestellten des Unternehmens zu finden.

Clara Mosbachers Sohn Hans auf dem Weg nach Palästina 1937.
Clara Mosbachers Sohn Hans auf dem Weg nach Palästina 1937.

Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits eine Flucht von Familienmitgliedern ins Ausland stattgefunden, und auch in den Familien von Claras Kindern und ihrem Freundeskreis waren Auswanderung, Palästina und Zionismus seit 1933 bedeutsame Themen. Inwieweit sie sich selbst mit diesen Gedanken beschäftigte, wissen wir nicht. Für den Sohn Hans, der sich mit der zunehmenden Verfolgung der jüdischen Minderheit immer stärker für die jüdische Gemeinde engagierte, wurde seine Verhaftung als letzter Präsident der Sinai-Loge bei dessen Auflösung Anfang 1937 zu einem „Alptraum bis ans Ende seines Lebens“, wie sein Sohn Benyamin Maoz schreibt. Sie führte jetzt zum Entschluss, Deutschland zu verlassen. Im Juli 1937 ging die Familie nach Haifa. Mutter Clara, deren Schwester Paula Wertheim und Hans‘ Schwester Lotte Breiding blieben zurück. Beim „furchtbar schweren Abschied“ von ihnen ahnte man, „man sieht sich nie wieder“, schreibt Maoz. Nachdem auch Fritz Mosbacher im August 1938 nach Australien ausgewandert war, blieben Clara nur noch ihre Tochter Lotte und ihre Schwester Paula.

Altersbildnis von Clara Mosbacher. Die Fotografin war mit aller Wahrscheinlichkeit Aenne Mosbacher.
Altersbildnis von Clara Mosbacher. Die Fotografin war mit aller Wahrscheinlichkeit Aenne Mosbacher.

Wie sich die Geschäfte des Unternehmens in der NS-Zeit entwickelten, konnten wir nicht ermitteln. Wollwäscherei und –handlung wurden Opfer der „Arisierung“. Unter anderem durch wirtschaftlichen Druck auf die Firma (zum Beispiel durch die Kürzung oder den Entzug von Rohstoffkontingenten) wurden die Eigentümer offensichtlich gezwungen, sie (wahrscheinlich1938) zu verkaufen. Käufer war Walther Geißler, der im Dezember 1937 auch die „Kasseler Wollwäscherei“ am Kupferhammer von jüdischen Eigentümern erworben hatte (vgl. den Artikel zu Helene und Siegfried Pincus). Da Geißler nach dem Krieg in diesem Zusammenhang eine erhebliche Ausgleichszahlung leisten musste, weil er offenkundig diese Firma erheblich unter Wert gekauft hatte, ist anzunehmen, dass dies auch beim Kauf der Firma Mosbacher der Fall war.

 

Clara Mosbacher verließ ihre Wohnung in der Jordanstraße 11 im Oktober 1938 – oder musste sie diese verlassen? Sie zog in das Haus Querallee 21, die von der jüdischen Familie Scheyer erbaute sog. „Grüne Villa“, wo bis zum August noch ihr Sohn Fritz wohnte, der die Fotografin Aenne Scheyer geheiratet hatte. Hier lebte ihr Tochter Lotte in einem Haus, in das eine ganze Reihe von „Halbjuden“ eingewiesen wurde, so dass es in der Familienerinnerung als „so genanntes Judenhaus“ (Maoz) galt. Vom Dezember 1938 bis zum Juli 1940 lebte auch Claras Schwester Paula Wertheim dort. Clara Mosbacher erlebte, wie ihre Tochter Charlotte im Oktober 1940 von der Gestapo verhaftet und für eine Woche in Breitenau inhaftiert wurde. Sie überlebte in Deutschland und starb in Israel. In der "Villa" lebte Clara von der finanziellen Unterstützung durch Carlottes Sohn, den Gefreiten Werner Breiding, wie sie Ende Dezember 1939 gegenüber der Devisenstelle angab, bis sie am 7. September 1942 nach Theresienstadt deportiert und schon wenig später am 29. September 1942 im Vernichtungslager Treblinka ermordet wurde. In Kassel hatte sie noch vor ihrer Fahrt in den Tod Abschiedsbesuche bei Freunden und Bekannten gemacht mit der Bemerkung, sie zöge in ein Altersheim im Osten. (Schulz-Jander, S. 127)

Clara Mosbachers Schwester Paula Wertheim wurde zunächst in Breitenau (heute Siroká Niva) vom 18. bis zum 24. August 1942 inhaftiert, dann nach Theresienstadt deportiert, wo sie am 1. März 1943 im Ghetto starb.

Als Claras Tochter Charlotte Breiding nach dem Krieg nach Israel kam, brachte sie genauere Informationen über Tod der Mutter mit. Hans Mosbacher konnte den Mord an seiner Mutter nie vergessen. Auf dem Grabstein seines Vaters Bernhard auf dem alten jüdischen Friedhof in Bettenhausen erinnert eine Inschrift an das Schicksal der Mutter.

 

Clara Mosbachers Enkel Hans Bernhard Mosbacher (1929-2014), der in der Emigration den Namen Benyamin Maoz annahm, hatte 1994 die Franz-Rosenzweig-Gastprofessur an der Universität Kassel inne.

 

Quellen und Literatur

 

Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden

Entschädigungsakte Clara Mosbacher, Bestand 518 Nr. 37447

Yad Vashem Documents Archive

Item ID 3694975: Documentation regarding the Jewish population in Kassel, Freudental and Diez, 1945-1982

 

Adressbücher Kassel

Beate Kleinert und Wolfgang Prinz, Namen und Schicksale der Juden Kassels 1933-1945. Ein Gedenkbuch, Kassel 1986

Richard Gotthelft, Erinnerungen aus guter alter Zeit, Cassel 1922

Jüdisch-liberale Zeitung vom 8.2.1929

Benyamin Maoz, Eine jüdische Familie in Nazi-Deutschland

Bernd Schaeffer, Wolle waschen mit Lossewasser

Eva M. Schulz-Jander, Von Kassel nach Haifa. Die Geschichte des glücklichen Juden Hans Mosbacher. Erzählt von seinem Sohn Benyamin Maoz, Kassel 2008

Frieda Sichel, Die Herausforderung der Vergangenheit. Jüdische Selbsthilfe in Kassel und Johannesburg, hg. vom Archiv der deutschen Frauenbewegung und Wolfgang Matthäus, bearbeitet von Wolfgang Matthäus und Cornelia Wenzel. Aus dem Englischen von Eva Schulz-Jander, Berlin 2017

 

Webseite von Kassel-West e. V. zu:

Die Fotos zur Familie und zur Villa in der Kölnischen Straße sind mit freundlicher Genehmigung der Autorin entnommen aus dem Buch von Eva Schulz-Jander über Hans Mosbacher.

 

Wolfgang Matthäus

Januar 2021

 

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