Verlegung am 14.Oktober 2014

Martha und Helmut Wurr

die beiden Stolpersteine  in der Marktgasse
die beiden Stolpersteine in der Marktgasse
Hezlichen Dank an den Bauhof der Stadt Kassel für die schöne neue Inszenierung dieser Steine im Frühjahr 2018, nach "Regenschäden"
Hezlichen Dank an den Bauhof der Stadt Kassel für die schöne neue Inszenierung dieser Steine im Frühjahr 2018, nach "Regenschäden"

Die Freiheit 15, ersatzweise für Marktgasse 23 (zerstört und neue Bebauung)

Martha Wurr, geborene Lewald

Die Konzert- und Opernsängerin Martha Lewald verheiratete Wurr wurde am 8. April 1894 in Kassel als Tochter des Ehepaares Bernhardine und Louis Lewald geboren. Die Familie lebte in der Kölnischen Straße 21. Nach dem Abschluss der Mittelschule erhielt Martha Lewald Gesangsunterricht.

Für die Saison 1916/1917 und 1917/1918 sind Engagements von Martha Lewald am Theater in Hildesheim belegt.

Bis zur Verheiratung mit dem Ingenieur Bertel Johannes Hinrich Wurr im Jahr 1922 war Martha Lewald als Sängerin, u.a. in Gotha und Hildesheim tätig.


Nach der Eheschließung scheint die Familie Wurr eine Weile in Düsseldorf wohnhaft gewesen zu sein. Die gemeinsame Tochter Ursula Wurr kommt am 13. November 1925 in Düsseldorf zur Welt. Am 7. Oktober 1933 folgt der Sohn Helmut. Er wird in Kassel geboren, wo die Familie zunächst in der Rotenburger Straße 24, später in der Marktgasse 32 gemeldet war.

 

Am 24. April 1934 verstarb der Ehemann von Martha Wurr. Infolge des Todes ihres als arisch geltenden Ehemannes konnte sich eine möglicherweise protektive Wirkung der privilegierten Mischehe auf Martha Wurr nicht mehr entfalten. Dem NS-Staat galt sie fortan, mit aller Konsequenz, als Volljüdin, weswegen ihr auch eine Fortsetzung der künstlerischen Karriere nicht möglich war, obwohl sie auf Grund ihres Könnens dazu die Möglichkeiten gehabt hätte. So verblieb Martha Wurr eine Rente in Höhe von RM 80,--. Um für den Unterhalt der Kinder aufkommen zu können, war Martha Wurr gezwungen, als Spülfrau von Nachmittags bis Nachts in einem großen Café tätig zu sein, um das Notwendigste zum Lebensunterhalt zu verdienen.

Das Haus in der Marktgasse (Eckhaus)
Das Haus in der Marktgasse (Eckhaus)

Amtsgericht: Gefängnisstrafe wegen Vergehen gegen den Kennkartenzwang
Amtsgericht: Gefängnisstrafe wegen Vergehen gegen den Kennkartenzwang

Im Oktober 1940 wird Martha Wurr vom Amtsgericht Kassel wegen Vergehens gegen den Kennkartenzwang zu einer Geldstrafe in Höhe von RM 40,-- verurteilt. Da es ihr aufgrund ihrer prekären finanziellen Lage nicht möglich ist, die Strafe zu bezahlen (ihr Sonderkassenkonto in Breitenau weist lediglich ein Guthaben von RM 2,-- auf), erfolgt eine 8-tägige Inhaftierung im Gefängnis Kassel zwecks Verbüßung der Strafe.


Diese tritt sie während ihrer Internierung als Schutzhäftling im Kasseler Arbeitserziehungslager Breitenau in Guxhagen an.

In diesem zeitlichen Kontext unternimmt die Kassler Fürsorgebehörde Schritte, um Martha Wurr das Sorgerecht für ihre Kinder endgültig streitig zu machen. Die Unterbringung des Sohnes Helmut im Kasseler Auguste-Förster-Haus wird begründet, weil die elterliche Gewalt der Mutter infolge Unterbringung in einer Arbeitsanstalt ruht(e). Die Vormundschaft für die beiden Kinder geht nachweislich im Dezember 1940 auf die Jugendbehörde der Stadt Kassel über.

Gestapo ordnet den Transport in das Konzentrationslager Ravensbrück an.
Gestapo ordnet den Transport in das Konzentrationslager Ravensbrück an.

Nachdem Martha Wurr im April 1941 als Zeugin im Verfahren gegen Friedrich Schaub wegen des Tatbestands der Rassenschande vorgeladen worden war, erfolgt ihre Zuführung in das Konzentrationslager Ravensbrück vom Arbeitserziehungslager Breitenau aus zum 21. Juni 1941. Dort wird Martha Wurr mit der Häftlingsnummer 6423 und den Vermerken RS (Rassenschande) und J (Jüdin) geführt. Am 6.Juni 1942 wird Martha Wurr im Zuge

der Aktion 14f13 nach Bernburg an der Saale verlegt und am Tag ihrer Deportation in die Tötungsanstalt in der dortigen Gaskammer ermordet.

Martha Wurr wurde gewaltsam die Möglichkeit genommen, am weiteren Wachsen der Familie Anteil zu haben, sie vielleicht materiell zu unterstützen oder die Enkelkinder mit einem Kinderlied zu unterhalten – sie war ausgebildete Sängerin.

Mit der Verlegung eines Stolpersteines für Martha Wurr in Kassel am 14. Oktober 2014 wird die bisher im Gedenkbuch von Ravensbrück wach gehaltene Erinnerung an das Opfer der rassistischen NS-Doktrin in den lokalen, öffentlichen Raum zurückgeholt.

 

Helmut Wurr

Helmut August Ludwig Wurr, geboren am 7. Oktober 1933 in Kassel, war der Sohn von Martha Wurr geb. Lewald und dem Ingenieur Bertel Johannes Hinrich Wurr. Helmut wohnte mit seinen Eltern und seiner sechs Jahre älteren Schwester Ursula in Kassel Wilhelmshöhe, Waldschule.

Helmuts Geburtsurkunde (eine nachträgliche Abschrift)
Helmuts Geburtsurkunde (eine nachträgliche Abschrift)

 

Der Vater und die Kinder waren christlich getauft, die Mutter jüdischen Glaubens. Bis zum Tode des Vaters in 1934 waren die Wurrs als Teil einer privilegierten Mischehe relativ geschützt. Helmut Wurr besuchte die Bürgerschule in Kassel Wilhelmshöhe und war ein durchschnittlicher Schüler.

Helmuts Zeugnis am Ende der 2. Klasse
Helmuts Zeugnis am Ende der 2. Klasse

Er wird 1940 in die 3. Klasse versetzt mit guten Noten in Betragen, Musik und Deutsch.

Die letzte gemeinsame Wohnadresse der Familie war vermutlich die Kasseler Marktgasse 38. Nach dem Tod seines Vaters und der Internierung seiner Mutter in Breitenau und ihrer Deportierung in das Frauen-KZ Ravensbrück wird Helmut in die „Obhut“ des Kasseler Auguste-Förster-Hauses übergeben, da „die elterliche Gewalt infolge Unterbringung in einer Arbeitsanstalt“ nicht ausgeübt werden könne.

In dieser Einrichtung soll es zu „Erziehungsschwierigkeiten“ gekommen sein. Er sei „unaufrichtig“ lüge, sei „unordentlich und unsauber an sich und seiner Bekleidung, verschlagen und ohne Mut, für das, was er getan habe, einzutreten“.

Diese Beurteilung eines noch nicht einmal Neunjährigen ist mehr als fragwürdig, zumal wohlwollende Einschätzungen aus dem schulischen Umfeld dabei keinerlei Berücksichtigung oder Erwähnung fanden. Die Behörden waren zwanghaft darum bemüht, antisemitische Stereotypen zu bedienen, um Kinder eines jüdischen Elternteils auf diese Weise in „Fürsorgeerziehung“ zu drängen. Die Begutachtung wurde auf der ideologischen Grundlage des NS vorgenommen, wonach die vorgeblich „jüdischen Rassemerkmale“ vererbt seien.

Für das Amtsgericht Kassel stand somit fest, dass Helmut Wurr ein „seelisch verwahrlostes Kind“ sei und die dauerhafte Überweisung in Fürsorgeerziehung erfolgen müsse.

Der entsprechende Beschluss ergeht am 1. Juli 1942, knapp vier Wochen nach der Ermordung von Helmuts Mutter am 6.Juni 1942 in der Tötungsanstalt Bernburg an der Saale, in das sie zuvor im Kontext der „Aktion 14f13“ deportiert worden war.

Helmut Wurr wurde aufgrund dieses Amtsgerichtsbeschlusses in das Landeserziehungsheim Homberg überwiesen und am 8. Oktober 1942 dort aufgenommen.

Mit Wirkung zum 1. Oktober 1943 erfolgt die polizeiliche Abmeldung Helmuts aus Homberg und die „Überweisung“ in das „Erziehungsheim Hadamar“.

Auffällig ist, dass die Kostenstelle in Kassel am 2. Oktober 1943 schriftlich in Kenntnis gesetzt wird, dass Helmut, der zuvor durchgängig als „geistig gesund“ bezeichnet wurde, wegen „Geisteskrankheit“ in Hadamar aufgenommen worden sei.

In der Akte gibt es eine handschriftliche Notiz, dass der am 1. Oktober 1943 in die „hiesige Anstalt“ aufgenommene Helmut Wurr am 10. Oktober an Darmentzündung mit „hohem Fieber“ erkrankt sei. Für den 12. Oktober 1943 wird „Exitus“ an „Enterokolitis“ vermerkt.

Den Anverwandten Ursula Wurr und der Tante, Frau Ella Krutewig in Düren, wurde mit Schreiben vom 12. Oktober 1943 mitgeteilt, dass Helmut Wurr verstorben sei; die Beerdigung werde in „aller Stille“ auf dem Anstaltsfriedhof stattfinden. Die „Beerdigung“ bestand aus einem würdelosen Verscharren ohne jegliches Zeremoniell. Der aus Kostengründen in den Tötungsanstalten eingesetzte, mehrfach verwendbare Klappsarg kam zum Einsatz. In diesen wurde die unbekleidete Leiche der Ermordeten hineingelegt. Durch die angebrachte Hebelmechanik konnte der Boden geöffnet werden. Der Körper fiel in die darunter ausgehobene Grube.

 

Die beiden Texte beruhen auf den Forschungen von Martina Hartmann-Menz (gekürzte und autorisierte Fassung von Rüdiger Scheel und Jürgen Strube     2014

Bildnachweise:

1) Ausschnitte aus den Personalverzeichnissen des Stadttheaters Hildesheim. Stadtarchiv Hildesheim Best. 102 Nr. 5461 (Gehälter und Mitglieder) Laufzeit 1915-1927.

2) Stadtarchiv Kassel 0.002.293 (Fotograf unbekannt)

3) Archiv des LWV Hessen. Bestand 2 (Breitenau) Akte Martha Wurr geb. Lewald NR. 7521 Bl.10.

4) Archiv des LWV Hessen. Bestand 2 (Breitenau) Akte Martha Wurr geb. Lewald NR. 7521 Bl.17.

5) Archiv des LWV Hressen AN 2166

6) Archiv des LWV Hessen AN 2166

 

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