Christian Wittrock

Luisenstraße 20

Christian Wittrock 1954 (HHStAW)
Christian Wittrock 1954 (HHStAW)

 

Christian Wittrock gehörte einer für die Kasseler Sozialdemokratie bedeutsamen Familie an. Beim frühen Terror der SA wurde er bereits im Frühjahr 1933 als konsequenter politischer Gegner schwer misshandelt und musste seit 1939 mehr als fünf Jahre Haft im Konzentrationslager erleiden.

 

Er wurde am 2. November 1882 in Kassel als jüngstes von fünf Kindern des Zimmermanns Daniel Wittrock aus Bremen und seiner Frau Margarethe Elisabeth (geb. Messerschmidt) geboren. Deren Vater Christoph führte in der Unteren Schäfergasse 33 eine Gastwirtschaft, die zum Treffpunkt wandernder Handwerksgesellen wurde. Vielleicht haben sich seine Eltern dort kennen gelernt. Nach der Heirat hatte Daniel Wittrock die Gastwirtschat seines Schwiegervaters übernommen, war aber gleichwohl oft auf Wanderschaft, und die – in der Familienerinnerung „emanzipierte“ - Mutter führte die Geschäfte.

 

Schäfergasse mit Gasthaus Wittrock rechts. (Uni-Bibliothek Kassel)
Schäfergasse mit Gasthaus Wittrock rechts. (Uni-Bibliothek Kassel)

Christian Wittrock wuchs in einem Haus auf, in dem sich Menschen begegneten, die Ideen der sozialistischen Bewegung anhingen. Das sollte ihn prägen. Sein Vater war wohl noch vor seiner Geburt 1882 gestorben, seine Mutter Margarethe heiratete im Jahr darauf ihren Schwager Georg Wittrock, mit dem sie wiederum fünf Kinder hatte. Wie Christian sollten sich einige seiner Brüder und Halbbrüder zum Teil in prominenter Stellung für die Sozialdemokratie engagieren. Christian Wittrock absolvierte eine Bürolehre und trat mit 18 Jahren 1900 in die SPD ein. Er heiratete am 25. Oktober 1911 die aus Ochshausen stammende Ottilie Gertrud Thomas (1891-1970), mit der er die Kinder Rut (verh. Sturm-Wittrock, 1922-1997) und Herbert (1913-2000) hatte.

 

Seit 1919 bekleidete er eine ganze Reihe politischer Ämter. In seiner Partei arbeitete er im Orts- und Bezirksvorstand. Er vertrat die SPD bis 1933 in der Stadtverordnetenversammlung (auch als Fraktionsvorsitzender), war 1919 besoldeter Stadtrat für das Wohnungswesen, gehörte zweitweise dem Kommunallandtag des preußischen Regierungsbezirks Kassel bzw. des Provinziallandtages der preußischen Provinz Hessen-Nassau an und war seit 1924 Mitglied des Preußischen Staatsrates. Wittrock arbeitete als Geschäftsführer des Krankenkassenverbandes Kassel. 1924 wurde er wegen angeblichen Meineids zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe verurteilt, allerdings 1927 vom preußischen Staatsministerium vollständig rehabilitiert, da es sich um ein „Fehlurteil“ gehandelt hatte. Für die Rechten und insbesondere die Nazis blieb er gleichwohl Zielscheibe von Diffamierungen und Hass. Roland Freisler, der in der Stadtverordnetenversammlung seine Angriffe auf die SPD 1932 immer mehr verschärfte, sprach Wittrock regelmäßig als „Zuchthäusler“ an. An ihm sollte in einer hemmungslosen Agitation „die Verderbtheit des Systems“ exemplifiziert werden, wie Krause-Vilmar schreibt. Zum Eklat kam es in der Stadtverordnetensitzung vom 11. Juni 1932. Als Freisler dort drohte: „In wenigen Monaten werden manche Ihrer Großen darum bitten, nicht auf den Galgen steigen zu müssen“, beantwortete Wittrock dies mit einer Ohrfeige, woraufhin weitere SPD-Abgeordnete die nationalsozialistischen Stadtverordneten aus dem Sitzungssaal prügelten (vgl. Krause-Vilmar, S. 20).

 

Die Machtübertragung an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 entfesselte bereits vom ersten Tag an eine Welle der rohen Gewalt in der Stadt, die sich in erster Linie gegen Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Juden richtete. Freiheitsberaubung, Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Plünderung, Raub und Diebstahl waren, wie es in „Volksgemeinschaft und Volksfeinde“ heißt, an der Tagesordnung. Der Nationalsozialist Göring als Preußischer Ministerpräsident sorgte dafür, dass es zu keiner Strafverfolgung mehr kam. Den liberalen Regierungspräsidenten Ferdinand Friedensburg beurlaubte er bereits am 12. Februar. Die Nazis eroberten und ergriffen in der Stadt die Macht.

Das Rathaus am 6.3.1933
Das Rathaus am 6.3.1933

Die unmittelbar nach dem Reichstagsbrand vom 27. Februar 1933 erlassene „Reichstagsbrandverordnung“ (des Reichspräsidenten Hindenburg) gab einem Teil des Terrors eine pseudolegale Rechtfertigung und schaffte als das erste „Grundgesetz“ des NS-Staates die Grundrechte de facto ab. Verhaftungen und die sog. „Schutzhaft“ trafen vor allem Kommunisten, aber auch Sozialdemokraten. Juden waren bereits am 9. März einem Boykott ausgesetzt und erlebten mehrfach Anschläge auf ihre Geschäfte. Das Gewerkschaftshaus trafen mehrere Besetzungen und Durchsuchungen. Dabei war seit dem 3. März nicht nur wie bereits zuvor die Presse der KPD, sondern auch das sozialdemokratische Kasseler Volksblatt verboten.

Am 24. März, einen Tag nach der Verabschiedung des „Ermächtigungsgesetzes“ – des zweiten „Grundgesetzes“ des NS-Staates - erreichte der Terror gegen einzelne Menschen einen Höhepunkt.

An diesem Tag zwangen die Nazis unter Führung von Roland Freisler den amtierenden Oberbürgermeister Dr. Stadler in dessen Amtszimmer im Rathaus zum Rücktritt zugunsten des Bürgermeisters und Nationalsozialisten Gustav Lahmeyer. Vor dem Rathaus waren SA-Leute postiert, Tausende waren Zeugen, wie am helllichten Tag demokratische Beamte und Angestellte unter dem Beifall und Gejohle der Menge aus ihren Amtsstuben und die Rathaustreppe hinunter geprügelt wurden, um sie anschließend in den Bürgersälen in der Oberen Karlsstraße zu misshandeln. Das waren nur einige der Opfer.

 

Zu den an diesem Tag Misshandelten zählte auch Christian Wittrock, der bereits vorher schon vorübergehend verhaftet worden war. In dem Bericht eines SPD-Abgeordneten des Preußischen Landtags an Reichsminister Hermann Göring heißt es: „(Der) Geschäftsführer der Besonderen Ortskrankenkasse Kassel Christian Wittrock, Kassel Luisenstraße 20, in den 40er Jahren, wurde am 24.3.1933 von zwei SA-Leuten aus seinem Büro geholt, das in Kassel in der oberen Karlsstraße gelegen ist, über den in der Nähe befindlichen Rathaushof in das Rathaus geführt und von da über die Rathausfreitreppe gebracht, dann durch die Menschenmenge hindurch nach den Bürgersälen in der Oberen Karlsstraße. Dabei schon getreten und geschlagen. In den Bürgersälen wurden zuerst sein Personalien von SA. aufgenommen und dann gesagt: ‚Wittrock ist entlassen.‘ Er wurde dann, anscheinend als wenn er entlassen werden sollte, aus dem Saal geführt, aber nicht aus dem Hause hinaus, sondern überraschend in einen dunklen Keller gebracht, dort auf eine Pritsche gelegt und mit Gummiknüppeln misshandelt. Zwei Schläge auf den Kopf, Blutergüsse in Rücken, Gesäß und Oberschenkeln. Kleidung beschmutzt, teilweise zerrissen, ebenfalls Schuhe. Dann nochmals in den Saal gebracht und dort ein zweites Mal misshandelt. In ärztlicher Behandlung bei Dr. Fackenheim in Kassel.“ (HStAM 165 3982, Bd. 10 Bl. 66)

 

Das Mandat, das Wittrock am 12. März bei der Wahl zur Stadtverordnetenversammlung erhalten hatte, wurde ihm aberkannt. Aus seiner beruflichen Stellung entließ man ihn, was später durch das sog. „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ eine pseudolegale Rechtfertigung erhielt. Man teilte ihm im November 1933 mit, dass seine Entlassung gerechtfertigt sei, „weil Sie nach Ihrer bisherigen politischen Betätigung nicht die Gewähr dafür bieten, dass Sie jederzeit rückhaltlos für den nationalen Staat eintreten.“ (HHStAW 518 4219) Ein Ruhegeld erhielt er auf dieser Grundlage nicht. Wohl aus diesem Grund musste er in der Folgezeit mehrfach umziehen. Er blieb unter ständiger Beobachtung und Überwachung und wurde immer wieder verhaftet: insgesamt mehr als 60 Tage war er in Haft. An aktiven Widerstand war unter diesen Umständen kaum zu denken. Wittrock blieb allenfalls die Möglichkeit, mit größter Vorsicht Kontakte innerhalb der sozialdemokratischen „Solidargemeinschaft“ (Kammler) aufrecht zu erhalten. In den Jahren vor dem Krieg lebte er in dem Haus seiner verwitweten Mutter in der Schäfergasse und betrieb dort die alteingesessene Gastwirtschaft der Familie.

Häftlinge des KZ Sachsenhausen

Am 1. September 1939 wurde Christian Wittrock in seiner Wohnung von zwei Kriminalbeamten verhaftet, am gleichen Tag wie auch Michael Schnabrich, Willi Goethe, Heinrich Bartling, Cornelius Gellert und August Bornemann. Dem Polizeigefängnis in Kassel folgten fünf Jahre lang die Qualen eines Häftlings im KZ-Sachsenhausen, über die er später, auch im Familienkreis, weitgehend geschwiegen hat - wie so viele. Am 23. April 1945 wurde er befreit, konnte aber erst Anfang Juli 1945 in seine Heimatstadt zurückkehren.

Wittrock konnte 1946 als Verwaltungsdirektor der AOK Kassel in seine alte berufliche Stellung zurückkehren und engagierte sich wiederum in einer Reihe von Ämtern als Sozialdemokrat. So gehörte er in seiner Partei dem Landesvorstand an und war in der Stadt von 1946 bis 1956 Mitglied der Stadtverordnetenversammlung und deren Vorsteher, danach bis 1960 ehrenamtlicher Stadtrat. Auf Landesebene nahm er an den Beratungen zur Hessischen Verfassung teil und war von 1946 bis 1954 und noch einmal 1958 Mitglied des Hessischen Landtags, von 1950 bis 1954 als dessen Vizepräsident. Er starb am 15. November 1967.

Christian Wittrock im Hessischen Landtag (vorne in der Mitte) - Im Landtag als Redner

 

Wolfgang Matthäus, Juni 2023

 

  

Quellen und Literatur

 

Stadtarchiv Kassel

S1 454 |Adressbücher | Meldekarte

HHStAW

Best. 518 4219 (Entschädigungsakte) | Best. 3008/2 (Fotos)

 

Frenz, Wilhelm / Kammler, Jörg / Krause-Vilmar, Dietfrid, Volksgemeinschaft und Volksfeinde, Band 2: Studien, Fuldabrück 1987

Kammler, Jörg: Widerstand und Verfolgung – illegale Arbeiterbewegung, sozialistische Solidargemeinschaft und das Verhältnis der Arbeiterschaft zum NS-Regime, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, S. 325ff.

ders.: Zur historischen Ausgangslage des Arbeiterwiderstandes: Die Kasseler Arbeiterbewegung vor 1933, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, S. 291ff.

Krause-Vilmar, Dietfrid: Hitlers Machtergreifung in der Stadt Kassel, in: Volksgemeinschaft und Volksfeinde, S. 13ff.

„Wittrock, Daniel Christian Warnke“, in: Hessische Biografie <https://www.lagis-hessen.de/pnd/1110190409> (Stand: 15.11.2021)

„Wittrock, Daniel Christian Warnke“, in: Hessische Parlamentarismusgeschichte Online

<https://parlamente.hessen.de¬/abgeordnete/1110190409-wittrock-christian> Stand: 15.11.2021

 

 

 

 

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