Eva Freundlich
geborene Feldenheimer wurde am 21.3.1862 in Hengstfeld in Baden-Württemberg geboren. Ihre Eltern waren Joseph Bernard Feldenheimer, geboren 19.02.1817 und seine zweite Frau Fanny Feldenheimer, geborene Levisohn, geboren 07.09.1832. Eva hatte vier Brüder und eine Schwester. Wo Eva zur Schule ging, ist nicht bekannt. Ihr Vater starb 1888 im Alter von 71 Jahren in Portland, Multnomah, Oregon, USA. Ihre Mutter starb am 30.01.1910 im Alter von 77 Jahren in Mergentheim.
Eva heiratete am 22.11.1881 in Mergentheim mit 19 Jahren den 35-jährigen Max Freundlich aus Kassel. In Kassel wohnten sie zunächst zusammen in der Mittalgasse 50. Max Freundlich war Kaufmann und betrieb zu dieser Zeit ein Geschäftslokal, Grüner Weg 8. Eva und Max bekamen vier Kinder: Die Söhne Henry (1880), Hugo (1883) und Berthold (1891) sowie die Tochter Olga, die am 11.11.1892 geboren wurde. Die Familie lebte ab 1885 in der Bismarckstraße 7. Im selben Jahr wurde Max Teilhaber der Firma Zimmermann & Co. Im Jahr 1890 zog die Familie in die Dörnbergstraße 16 um. Ab 1895 wohnten sie in der Hohenzollernstraße 73. Ihr Sohn Henry verstarb bereits im Alter von 21 Jahren im Jahr 1901. Ab 1905 wohnten sie in ihrem Haus in der Hardenbergstraße 16. Wo die Kinder Berthold, Hugo und Olga zur Schule gingen, ist nicht bekannt. Ihr Sohn Berthold verstarb 1908 im Alter von 17 Jahren. Damit waren von ihren 4 Kindern bereits zwei verstorben. Im Juli 1909 verstarb dann auch ihr Mann Max im Alter von 64 Jahren. Da war Eva 47, ihre Sohn Hugo 18 und ihre Tochter Olga 17. Die Familie hatte innerhalb von 8 Jahren 3 Todesfälle zu beklagen. Nach dem Tod ihres Mannes wurde Eva Eigentümerin des Hauses Hardenbergstraße 16. Das Haus Hardenbergstraße 16 bot zunächst Eva und ihrem Mann und ihren Kindern Hugo und Olga ein zu Hause. Wann ihr Sohn Hugo eine Ausbildung machte und wann er von zu Hause auszog ist nicht bekannt. Ebenso blieb unbekannt, wann ihre Tochter Olga von zu Hause auszog und wo sie eine Ausbildung zur Opernsängerin machte. Aus der Familienchronik der Gebrüder Weisner (USA) geht hervor, dass Olga in ihren jungen Jahren eine talentierte Opernsängerin war.
Eva blieb Witwe bis zu ihrem Tod. Von ihrem Sohn Hugo ist bekannt, dass er die Shoah überlebte, wo und wie ist nicht bekannt. Er war mit Renate Roth verheiratet und starb 1951. Ob Hugo und seine Frau Renate Kinder bekamen und wo sie lebten, ist unbekannt. Es ist zu vermuten, dass Eva mit ihrem Sohn Hugo über die Shoah hinaus in Kontakt blieb. Ihre Tochter
Olga
hatte am 05. Juni 1918 den Bankkaufmann Moritz Josef Max Weisner geheiratet, der Geschäftsführer der Firma seines Vaters „Gerson Weisner“ war. Wirtschaftlich ging es dem jungen Paar gut. Olga kümmerte sich um den Haushalt und die Bediensteten und genoss ihre Freizeit als wohlhabende deutsche Hausfrau. Oft traf sie sich zum Skatspiel oder spielte Tennis mit Freunden. Max und Olga wohnten ab 1918 in der Kronprinzenstraße 2. Am 14. April 1919 wurde ihr Sohn Günter und gut zweieinhalb Jahre später am 16.12.1921 ihre Tochter Hannah, in Kassel geboren. Im Oktober 1923 zog die Familie in das Haus von und zu Olgas Mutter Eva in die Hardenbergstraße 16 um. Am 01.02.1924 verstarb Hannah ganz plötzlich, was für alle in der Familie sehr traurig war. Am 31. August 1927 bekam Olga ihr 3. Kind, Eva Renate. Die Weisners waren praktizierende Juden und Mitglieder der örtlichen Synagoge in Kassel. Olga war auch Sekretärin des Frauenkreises der jüdischen Bne B`rith Loge in Kassel (Bnei Briß genannt, diese war eine der größten jüdischen internationalen Vereinigungen, die sich auf die Förderung von Toleranz, Humanität und Wohlfahrt konzentrierte) und hatte Unterlagen und die Kasse im Hause.
Für alle Juden in Deutschland änderte sich das Leben dramatisch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933. So war es auch für die Familie Weisner und ihre Verwandten in Kassel. Olga hat als Mutter von Günter und Eva die brutalen Drohungen und Diskriminierungen und den offenen Judenhass bereits ab 1930 in Kassel miterlebt und sie machte sich große Sorgen um ihre Familie und ihre Verwandten. Die Familien Weisner, Schwarzenberger und Bachrach standen in Kassel in verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander. 1933 war ein krasser und abrupter Wendepunkt im Leben jüdischer Familien und anderen von den Nazis nicht tolerierten Bürgern. Eva Freundlich und die Familie Weisner und ihre Verwandten erlebten einen brutalen, gewaltvollen Antisemitismus in Kassel. Er führte zu erschreckenden und beängstigenden Erfahrungen. Mit dem Boykottaufruf „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!" - unter dieser Parole begann am 1. April 1933 um 10 Uhr ein reichsweiter Boykott gegenüber jüdischen Geschäften, Ärzten und Rechtsanwälten. Ähnliche Boykottmaßnahmen waren jüdische Geschäftsleute, Rechtsanwälte und Ärzte schon in den Wochen zuvor mehrfach in Kassel ausgesetzt. Wegen dieser Erfahrungen verließ Anfang 1933 Olgas und Max‘ Neffe Heinrich Schwarzenberger mit seiner Frau Claire und ihren beiden Töchtern Hannelore und Inge Kassel und hofften, Schutz vor Antisemitismus in Holland zu finden.
Moritz Josef Max Weisner
wurde am 25.12.1882 in Kassel als 2. Kind von Karoline (Lina) und Gerson Weisner geboren. Seine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt 34 und 33 Jahre alt. Max hatte eine dreieinhalbjährige ältere Schwester Paula, geboren 27.05.1879. Die Familie wohnte zu diesem Zeitpunkt in der Unteren Königstraße 62. 1887 zog die Familie in die Mauerstraße 16 um. Da waren Paula 8 und Max 5 Jahre alt. Wo sie (Max und Paula) zur Schule gingen, ist nicht bekannt.
Vater Gerson Weisner betrieb 1882 eine Manufaktur-Putz- und Modewarenhandlung. Er verstarb am 04.05.1905 viel zu früh im 55. Lebensjahr. Max übernahm die Firma seines Vaters als junger Bankkaufmann im Alter von 22 Jahren, die zu diesem Zeitpunkt als Firma „Gerson Weisner, Trikotagen, Tücher und Strumpfwaren en gr.“ firmierte und in der Mauerstraße 16 betrieben wurde. Er führte die Firma erfolgreich unter diesem Namen (seines Vaters) weiter. Bereits im Jahr 1910 expandierte die Firma unter seiner Leitung so stark, dass der Firmensitz in die Orleanstraße 3 verlegt werden musste. Die Firma betrieb dort neben dem Textilgroßhandel eine Strickereifabrik im 2. und 3 Stock. Es wurden bis zu 120 Angestellte und Arbeiter beschäftigt. Zudem eröffnete das Unternehmen einen Filialbetrieb in Helmsdorf (Thüringen).
Mauerstraße 16 (um 189o - Foto Rothe, Murhardsche Bibliothek) - Orleansstraße 3 - Urkunde zum Firmenjubiläum)
Bis 1917 wohnte Max noch in der Mauerstraße 16. 1918 zog er in die Kronprinzenstr. 2 um. Seine Mutter wohnte weiterhin in der Mauerstraße 16. Max stellte 1912 den jüdischen Buchalter Moritz Kaiser und den Kaufmann Wilhelm Döring ein. Wilhelm Döring beschrieb später die wirtschaftliche Lage der Firma in einem Schreiben an den Regierungspräsidenten im Rahmen der Entschädigungsleistungen, die Max angestrebte, sinngemäß so: „Zum 1. Januar 1914 wurden die damaligen Prokuristen Moritz Kaiser und Wilhelm Döring von der Firma „Gerson Weisner“ stille Teilhaber. Das Unternehmen entwickelte sich günstig und zählte zu den führenden der Stadt Kassel. Max Weisner galt als umsichtiger und besonnener Geschäftsmann von bestem Ruf und Ansehen. 1928 beging die Firma ihr 50-jähriges Firmenjubiläum. Die Umsätze der Firma betrugen zwischen 1929 bis 1933 jährlich ca. 3 Mill. Reichsmark. Wegen der Boykottmaßnahmen durch die Nationalsozialisten konnte die Firma 1935 die Fixkosten nicht mehr decken. Die jüdische Kundschaft kaufte weniger und die christlichen Kunden zogen sich ganz zurück. Um den drohenden Konkurs abzuwenden, beschlossen die 3 Gesellschafter (Max Weisner, Wilhelm Döring und Moritz Kaiser) 1935, die Firma aufzulösen, alle Schulden zu begleichen und das Restvermögen untereinander aufzuteilen. Herr Döring schätzte das Einkommen von Max in den besten Jahren (1929 bis 1933) auf die beträchtliche Summe von jährlich ca. 100.000 RM. Die Auflösung der Firma wurde im Frühjahr 1938 beendet. Max lebte während der 3 Jahre 1935 bis zum Frühjahr 1938 von seinem angesparten Vermögen. Bis zu seiner Flucht nach Kalifornien besaß er noch ein Bankvermögen bei der Dresdener Bank. Davon wurden ihm neben den Frachtkosten für seine Möbel und für die Schiffspassage lediglich 5000 Dollar zur Gründung einer bescheidenen Existenz in den USA von den NS-Behörden belassen. Herr Döring bestätigte, dass Max, solange es ihm noch möglich war, für wohltätige Zwecke namhafte Beträge ausgegeben hatte.“
Firmensitz in der Mauerstraße (Foto Rothe - Murhardsche Bibliothek) - Briefbogen (1937)
Günter Weisner
Günter besuchte die ersten Jahre seiner Schulzeit eine Privatschule. Am 31. August 1927 wurde seine Schwester Eva geboren. Nach Beendigung des 4. Schuljahres, wechselte Günter 1929 auf das Wilhelmsgymnasium in Kassel. Ab 1933 bezeichneten Günters Lehrer am Wilhelmsgymnasium in Kassel jüdische Schüler als minderwertig und forderten die nicht jüdischen Schüler auf, sich von Günter abzuwenden, nicht mit ihm zu sprechen und ihn voll zu meiden. Zwei protestantische Mitschüler (Hunold Dietrich, geboren 27.05.1919 und Heinz Müller, geboren 24.06.1919, beide in Flensburg geboren), hielten sich nicht an diese Aufforderung und standen Günter zur Seite. Dies irritierte die anderen Schüler und es kam zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen auf dem Schulhof. Einmal wurde Günters Nasenbein gebrochen, ein anderes Mal verlor er sogar das Bewusstsein, nachdem er in den Bauch getreten worden war. Günters Eltern suchten daraufhin das Gespräch mit dem Schuldirektor, der sie bat, Günter zu seinem eigenen Schutz von der Schule zu nehmen.
Diesem Naziterror war auch Günters geliebter jüdischer Onkel, Dr. Beni Schwartenberger, der eine eigene Arztpraxis in der Lutherstraße in Kassel betrieb, ausgesetzt. Er erhielt Anfang April 1933 mehrere Drohbriefe von den Nazis. Diese Drohbriefe brachten Günters Onkel in totale Verzweiflung, aus der er keinen anderen Ausweg sah, als sich zwei Tage vor Günters 14. Geburtstag zu erschießen. Verängstigt und sehr verunsichert stand Günter mit diesen Schrecken nun im Leben.
Günters Beschneidung durch Dr. Schwarzenberger im Familienbuch - Günter mit Mutter und Schweser (ca.1931)
Eine weitere Beschulung in einem anderen Kasseler Gymnasium war zu diesem Zeitpunkt aus den oben genannten Ereignissen schon völlig ausgeschlossen. So mussten sich Günters Eltern zu seinem Schutz um einen Gymnasialplatz außerhalb von Deutschland kümmern. Sie fanden für ihn in der Schweiz in St. Gallen in einem Internat mit Gymnasium einen Platz. Günter wollte nicht weg in ein Internat, wo er keinen kannte. Er machte sich nach den beängstigenden Erfahrungen in und um Kassel große Sorgen um seine Familie und fühlte sich ohne seine Familie menschenseelenallein und wurde sehr heimwehkrank. Obwohl er im Internat ein guter Schüler war, fühlte er sich dort nicht wohl, aß und schlief wenig. Er fand keine Freunde und war mit seinen Sorgen und Ängsten allein.
Im Dezember 1933 traten bei Günter in St. Gallen die ersten Symptome einer Diabeteserkrankung auf. Ende 1933 wurde bei Günter nach seiner Rückkehr nach Kassel im Jüdischen Krankenhaus in Frankfurt eine schwere Form von Diabetes Typ I diagnostiziert. (Viele Forscher gehen davon aus, dass starker seelischer Stress, diskriminierende und traumatische Erlebnisse Auslöser für eine frühe schwere Diabeteserkrankung sein kann.)
Günters Mutter Olga beschrieb die Situation um Günter mit ihren Worten so: „Vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten war ihr Sohn Günter, abgesehen von den üblichen Kinderkrankheiten und einer Blinddarm Operation, ein durchaus gesundes und fröhliches Kind. Dies änderte sich schlagartig mit dem Aufkommen der Nationalsozialisten 1933. In Kassel erfuhr er in der Schule zweimal durch Mitschüler schwere Misshandlungen. Sein Klassenlehrer sagte ständig, wie er uns berichtete, zu seinen Mitschülern (Günter war der einzige Jude in der Klasse), sie müssten ihn meiden, mit ihm dürfte keiner spielen, es solle mit ihm auch keiner sprechen. Sein ganzes Wesen war nunmehr verändert. Er war gedrückt und fühlte sich verstoßen. Tatsächlich hielten sich nun fast alle seiner früheren Spielgefährten von ihm fern.
Hinzu kamen aber weitere schwere Erlebnisse der Juden Verfolgung. Günters Mutter erinnert sich: „Meines Mannes Schwester war mit Sanitätsrat, Doktor Beni Schwarzenberger, verheiratet, der im ersten Weltkrieg als Oberstabsarzt im Felde war. Er übte seine Praxis in Kassel aus und war auch Arzt unserer Familie. Unser Sohn hing besonders an ihm. Anfang April 1933 kamen wir im Familienkreis zusammen und hörten, dass er von den Nationalsozialisten Drohbriefe erhalten habe. Am 12. April 1933, unmittelbar vor dem 14. Geburtstag unseres Sohnes (14. April), nahm sich Beni Schwarzenberger das Leben. Das war ein schwerer Schlag für unsere ganze Familie. Bei unserem jugendlichen Sohn Günter trat dies zu seinen Erlebnissen in der Schule und mit seinen früheren Spielgefährten hinzu.“ Weiter schrieb Olga: „…Eines Tages erschien die Gestapo bei uns, konfiszierte die Bücher und die Kasse der jüdischen Bne B`rith Loge in Kassel und nahm mich zur Polizei mit, obwohl ich darauf hinwies, dass mein Sohn Günter mit einer Halsentzündung krank im Bett lag. Dies half nichts; ich kam erst um 10:00 Uhr nachts wieder nach Hause zurück.“ Um die Weihnachtszeit 1933 wurde bei Günter Diabetes festgestellt. Wir hatten keine Zweifel daran, dass dies auf die schrecklichen Erlebnisse zurückzuführen war, an denen er in so jungen Jahren teilgenommen hatte.“
Günter kehrte Anfang 1934 nicht in die Schweiz zurück und wurde in Kassel privat unterrichtet. Als man ihn 1935 an einer staatlichen Schule für die Prüfung zum mittleren Bildungsabschluss anmelden wollte, erhielt er dafür vom staatlichen Schulamt in Kassel keine Zulassung. Günter machte nun in einem von Juden geführten Unternehmen von 1935 bis 1937 eine zweijährige kaufmännische Ausbildung. Nach dieser Ausbildung arbeitete er in der Textilfirma seines Vaters in Kassel, die bereits in Auflösung war.
Eva Weisner
Eva besuchte bis Ende 1937 die höhere Mädchenschule am Ständeplatz (heute Jacob-Grimm-Schule). Sie beschrieb 1957 in ihrem Lebenslauf den Schulbesuch so: „Als jüdisches Kind waren ihr zahlreiche Einschränkungen im allgemeinen Schulbetrieb auferlegt. Sie habe sehr unter den feindseligen Haltungen ihrer Lehrer und Mitschüler gelitten.“