Die jüdische Familie KOGAN stammte „aus dem Osten“. Ihre drei Töchter wurden in Kassel geboren. Die Älteste, Elfriede, am 2.6.1921 geboren, starb mit nur 13 Jahren am 1.7. 1934. Edith Lotte, geboren am 30.6.1922, und Ilse geboren am 28.11.1924, lebten bei ihren Eltern über dem Ladengeschäft in der damaligen Bahnhofstr. 14 in lange Zeit wohlhabenden Verhältnissen.
Die Mutter, Berta Beile KOGAN geb. Weiss, wurde am 21.6.1889 im südpolnischen Bochnia (dt. Salzberg) geboren. Ihre Schwester Frieda R. WEISS entkam in der NS-Zeit und starb 1963 in England. Im Dezember 1920 heirateten Berta WEISS und der sechs Jahre ältere Gold- und Silberschmied Hermann KOGAN in Frankfurt, sie lebten dann in Kassel. Im Kasseler Handelsregister stand noch 1938 „Inh. Herm. Kogan, Prok. Frau Bertha Kogan geb. Weiß, H.-R.-Nr. A 2410“.
In einem Brief an ihren Schwager David in Argentinien schrieb sie 1923 u. a. “Unsere Kleinen sind G. l. gesund und munter und machen uns viel Freude. Elfriedchen ist jetzt 2 Jahre und ein munteres kleines Ding. Unser jüngstes wird s. G. w. Ende des Monats 1 Jahr, es stellt sich schon und sieht gerade wie Hermann aus, als er noch klein war… Schade nur, dass ich nicht jüdisch lesen und schreiben kann … vielleicht kommt ihr später mal zu einem Besuch.“ Der Besuch fand 1926 statt (s.u.).
Auch Vater Hermann Chaim KOGAN, geboren am 24.12.1882, stammte „aus dem Osten“. Seine Eltern, Leib KOGAN und Uda geb. Abrahamsohn lebten mit ihren 3 Kindern in Balta, heute Ukraine. Sein Bruder David (*1884), gelernter Kürschner, verstarb 1966 in Israel. Seine Schwester Berta Golda Gurevich geb. Kogan starb 1951in Buenos Aires während des Wiedergutmachungsverfahrens. – Hermann KOGAN lebte ab 1915 unter verschiedenen Adressen in Kassel, im Juni 1920 zog er in die Bahnhofstr. 14, wo er sein Geschäft einrichtete und im Dezember heiratete.
Hermann Kogan in seinem Geschäft - Schaufenster des Geschäfts an der damaligen Bahnhofstraße 14
Balta
In der heute ukrainischen Kleinstadt Balta (etwa 20.000 EW), 200 km von Odessa entfernt, kreuzen sich wichtige Überlandstraßen von Süd nach Nord und West nach Ost. Im 16. Jahrhundert von Tartaren gegründet (Balta = türkisch für Axt), erlebte sie eine höchst wechselvolle, umkämpfte Geschichte mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil: 1863 etwa 8.500. Man war hauptsächlich im Handel mit Getreide, Tabak, Seife usw. tätig. 1882 (dem Geburtsjahr von Hermann KOGAN) kam es zum Pogrom mit Plünderungen von 1.200 jüdischen Häusern und Läden, dann erneut in 1905. Der Versuch, eine Selbstverteidigung aufzubauen, wurde polizeilich unterdrückt. Dann wurde Balta Zentrum zionistischer Bewegungen in der Großregion. Während des russischen Bürgerkriegs 1919 zwischen Bolschewiki und Ukrainern flohen viele nach Odessa. Die jüdische Bevölkerungszahl sank von 13.000
(57 %) 1897 auf 9.000 in 1926 (= 40 %), dann ab 1939 unter 5.000. Noch 1924 gab es 2 „Yiddishe“ Schulen mit 530 Schülern, viele Handwerker (Schuhmacher vor allem), Museen, Bildungseinrichtungen und 30 jüdische Landwirtschaft-Kooperativen, bis sie aufgelöst oder Kolchosen wurden.
Hermanns Bruder David berichtete später im Wiedergutmachungsverfahren im deutschen Konsulat in Buenos Aires: „Mein Bruder Hermann Kogan besuchte in Balta die Volksschule und erlernte dann das Goldmacherhandwerk. Ungefähr in 1905 übersiedelte er nach Deutschland und lebte in verschiedenen Städten, bis er sich dann in Kassel niederließ. Er eröffnete als Alleininhaber ein Gold- und Silbergeschäft, seine Firma war im Handelsregister eingetragen. Wie hoch sein Geschäftseinkommen war, ist mir unbekannt. Er hatte jedoch immer eine große Wohnung mit Dienstmädchen und lebte sehr gut, wie er mir schrieb. Dann schrieb er, dass die Nazis sein Geschäft plünderten und ihm bis auf die Werkzeuge alles wegnahmen. Er musste seine große Wohnung mit 2 Stockwerken verlassen und gegenüber in ein Zimmer ziehen. Nach kurzer Zeit wurden ihm auch seine Arbeitswerkzeuge abgenommen und er wurde mit seiner ganzen Familie deportiert, wahrscheinlich nach dem Osten, wo die Familie umgekommen ist, denn ich habe nie wieder ein Lebenszeichen von ihm oder seinen Kindern erhalten… - Seit 1906 lebe ich in Argentinien. 1926 besuchte ich ihn in Kassel und stellte fest, dass er ein glänzend gehendes Gold- und Silberwarengeschäft besaß…“ – Der Einreiseantrag der Familie war vom argentinischen Konsulat am 29.3.1939 abgelehnt worden, obwohl sein Bruder David für sie bürgte.
Familie KOGAN musste im April 1941 für 4 Monate in die Kaiserstr. 73 (Goethestraße), Ende August 1941 dann in die Klosterstr. 2 und im Juli für 2 Monate in die Mittelgasse 53 umziehen. Am 7.9.1942 wurde die Mutter (53) mit Edith Lotte (20) und Ilse (18) ins Ghetto Theresienstadt deportiert und 1944 (Okt.?) nach Auschwitz. Sie wurden 1945 für „tot“ erklärt. Der Vater war vom 11. bis 25.11. 1938 im KZ Buchenwald (Häftlingsnummer. 21759), dann ein paar Monate bei seiner Familie in der Kaiserstr. und vom 17.10. bis 15.12.1941 im Arbeitserziehungslager Breitenau. Anschließend im KZ Sachsenhausen, wurde er dort Ende Mai 1942 bei einer „Vergeltungsaktion“ mit etwa 250 jüdischen Männern erschossen. (Die Fotos unten zeigen Häftlinge im KZ Sachsenhausen.)
Gudrun Schmidt
Oktober 2025
Verlegung am 16.10.2025
Quellen und Literatur
„Namen und Schicksale der Juden Kassels“, bearbeitet von B. Kleinert und W. Prinz, Hrg. Stadt Kassel 1986
Stadtarchiv Kassel: Adressbücher, Einwohnermeldedaten
Hess. Haupt- u. Staatsarchiv Wiesbaden HHStAW 518 Bestand Nr. 67035_009 und 10
https.//www.shtetlinks.jewishgen.org/krakow/bochnia – social and cultural life
https://www.jewishvirtuallibrary.org/balta
Wikipedia: „Bochnia“, „ Balta“ und „Geschichte der Juden in Polen“
JewishKehilaLinks: „The Jews of Krakow and its Surrounding Towns“