Ilse und Robert Wilmersdörfer

Königsplatz 59

Meine Cousine Ilse wurde am 6. Oktober 1905 als einziges Kind der jüngsten Schwester meiner Mutter, die mit dem jüdischen Kaufmann Siegfried Böhm verheiratet war, in Hannover geboren. Ilse war 20 Jahre älter als ich. Wir hatten ein herzliches Verhältnis, was auch dadurch bestärkt wurde, dass ich als kleines Kind sehr oft bei meiner Lieblingstante Käthe und meinem Onkel Siegfried, dem Namensgeber meines zweiten Vornamens, in Hannover zu Besuch war.

 

An eine Begebenheit kann ich mich gut erinnern. Im Alter von vier Jahren war ich mal wieder mit meiner Mutter bei meiner Tante in Hannover. Ilse hatte einige Freundinnen eingeladen. Die saßen alle an einem gedeckten Tisch. Neugierig und etwas verlegen schlich ich mich in das Zimmer, angezogen von dem fröhlichen Lachen, das dort herrschte. Ich wurde freundlich begrüßt, alle fanden den kleinen Cousin von Ilse niedlich und verwöhnten mich mit Süßigkeiten. Nach einiger Zeit spielte ich auf dem Fußboden und kroch unter den Tisch, der wegen der lang herunter hängenden Tischdecke eine ideale Höhle darstellte. Bald fielen mir die vielen Frauenbeine ins Auge, die zwischen dem Ende der Tischdecke und dem mit Teppichen ausgelegten Fußboden zu sehen waren. Wie mögen die sich wohl anfühlen? Die glatten Seidenstrümpfe hatten es mir angetan – ich fuhr mit meinen Kinderhänden daran entlang und fühlte mich in meinem Tun bestärkt durch die kichernden Damen, denen meine Streicheleinheiten offenbar ähnliches Vergnügen bereiteten wie mir.

1931 – ich war knapp sechs Jahre alt – hat Ilse den Kaufmann Robert Wilmersdörfer aus Weiden in der Oberpfalz geheiratet. Von dieser Hochzeit gibt es eine Begebenheit, die meine Mutter immer wieder gern erzählte: Ich bin mit einem gleichaltrigen bayerischen Mädchen, dessen Prahlerei mich geärgert hatte, in Streit geraten. Die lief dann zu ihrer Mutter und plärrte: „De Bur hoat mi uff de Noas gschloan, dösch Blue komme iesch!“

Später wohnten Ilse und Robert am Königsplatz 59 in Kassel. Dort habe ich sie oft besucht. Ich war immer beeindruckt von der gediegenen Ausstattung der Wohnung, von dem Blick aus den großen Fenstern auf den belebten Königsplatz, besonders aber von dem gekachelten Bad.

Der Königsplatz vor dem Ersten Weltkrieg (Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Sign. 35 HF A 5203[094)  -Rechts die Post, links daneben vor dem Turm der Lutherkirche  das Haus Nr. 59.
Der Königsplatz vor dem Ersten Weltkrieg (Universitätsbibliothek Kassel - Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel, Sign. 35 HF A 5203[094) -Rechts die Post, links daneben vor dem Turm der Lutherkirche das Haus Nr. 59.

Meine Cousine war eine schöne Frau. Ihr Aussehen hat nach damaligen rassistischen Klischeevorstellungen einer Jüdin entsprochen. Wenn ich mit ihr unterwegs war und Klassen- kameraden begegnete, fragten die mich hinterher inquisitorisch: „Wieso gehst‘n du mit ner Jiddin?“ Dann nahm ich all meinen Mut zusammen und entgegnete trotzig: “Ja, das ist meine Cousine Ilse.“

 

Robert Wilmersdörfer führte das Konfektionsgeschäft „Kaufhaus Modern“ in der Kölnischen Straße 9. Ich erinnere mich noch gut an diesen vornehmen Laden, wo ich oft genug neue Sachen zum Anziehen erhielt. Während des November-Pogroms 1938 wurde das Geschäft von SA-Männern verwüstet, die auch Robert brutal misshandelt hatten. Der konnte immerhin noch völlig verängstigt meinen Vater anrufen, dem es gelang, ihn vor dem Schlimmsten zu bewahren. Im August 1939 emigrierten Ilse und Robert Wilmersdörfer in die USA und lebten später in Miami/Florida, wo sie ihren Namen in Wilmers änderten. Robert starb dort im Jahr 1973, Ilse folgte ihm 1986.

 

Adressbuch 1931 zur Kölnischen Straße 9 mit dem "Kaufhaus Modern"
Adressbuch 1931 zur Kölnischen Straße 9 mit dem "Kaufhaus Modern"

Der Hausstand meiner Verwandten wurde in Bremen eingelagert. Im Jahr 1999 erhielt ich von der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen neun Bücher, darunter Im Osten nichts Neues von Carl A.G. Otto, die, weil sie signiert waren, in mühevoller Spurensuche meinen jüdischen Verwandten Böhm und Wilmersdörfer zugeordnet werden konnten. Diese Bücher sind auf Ausstellungen mit dem Thema Jüdischer Buchbesitz als Beutegut – Seligmanns Bücher in mehreren Städten gezeigt worden. Über dieses Erbe habe ich mich sehr gefreut.

 

 

Walter Sons, März 2016

 

(Walter Sons regte die Verlegung der Steine an und finanzierte sie.)

 

                                                                                                                  

 

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